Frankfurt a.M. (epd). Im Caritas Altenpflege-Zentrum St. Martin in Düsseldorf fing alles an. Es war das erste Heim in Deutschland, das in der Corona-Pandemie die neu entwickelte App "Videobesuch" nutzte. Mit ihr können sich Angehörige und Heimbewohner per Videoanruf verbinden. Möglich gemacht hat das dort und in sieben weiteren Häusern der Caritas ein Kölner Start-up, das inzwischen bundesweit agiert.
Das junge Unternehmen war zuvor unter den 20 besten Projekten des #WirVsVirus-Hackathons der Bundesregierung. Inzwischen sind Videobesuche in über 280 Heimen möglich - und das Unternehmen sieht noch "viel Luft nach oben", wie Mitgründerin Jaye Pharell dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte. Der Markt ist riesig: In Deutschland gibt es über 12.000 Pflegeheime.
Der Wettbewerb sei ein echter Türöffner gewesen, bekennt Pharell. Die inzwischen kostenpflichtige App ermöglicht Videotelefonie, obwohl fast überall wieder Besuche von Familienmitgliedern in Heimen möglich sind.
"Viele Träger sind nach dem Modellversuch bei der Caritas von selbst auf uns zugekommen, andere konnten wir überzeugen, dass der Videobesuch gerade bei Besuchsverboten eine gute Ergänzung ihres eigenen Angebotes ist", berichtet Pharell. Man wolle weiter wachsen, sagt sie, eine Begrenzung der Nutzerzahlen gebe es nicht. Neuerdings kümmere man sich vermehrt darum, ambulante Einrichtungen mit dem Angebot zu versorgen.
Das Funktionsprinzip: Die Heime tragen zunächst die Tage, Uhrzeiten und Zeiträume ein, an denen sie die Videotelefonate ermöglichen können. Dann werden permanente Links an die Angehörigen geschickt, über die sie ihre Termine selbstständig buchen. Alle Wünsche werden in einem zentralen Kalender für die Pflegekräfte festgehalten. Um die vereinbarte Uhrzeit öffnet sich der "Videobesuch" per App selbstständig und schließt automatisch nach der vorab festgelegten Zeitspanne.
Das heißt, die Heime müssen nur noch das Endgerät zum Heimbewohner bringen oder den Pflegebedürftigen vor einen Computer begleiten. Der Reiz im Vergleich zu anderen Anbietern wie Skype und Facetime bestehe darin, dass "Videobesuch" den Pflegekräften den organisatorischen Aufwand weitgehend abnimmt.
An Kosten fällt pro Monat und genutztem Tablet "ein mittlerer zweistelliger Betrag" an, so Pharell. Aber - und das ist nicht zu unterschätzen - zuvor müssen Heime, die etwa noch kein WLAN nutzen, kräftig investieren. "Videobesuch" stellt nur die Software bereit - Tablets, Laptops oder Computer müssen die Heime selbst kaufen.
Kein Wunder, dass die Pflegebranche auf Zuschüsse von Bund und Ländern hofft, um die eigenen Kosten für die Digitalisierung merklich zu senken. Zuschüsse gibt es auch schon: Möglich wurden sie mit dem Pflegepersonalstärkungsgesetz am 1. Januar 2019. Gelder gibt es für eine einmalige Anschubfinanzierung für digitale oder technische Investitionen in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen. "Jede Einrichtung kann einen Zuschuss der Pflegeversicherung in Höhe von 12.000 Euro (oder 40 Prozent der Gesamtkosten) erhalten", teilte das Bundesgesundheitsministerium mit. Damit könnten etwa Programme zur digitalen Dienstplanerstellung für Fahrtenplanungen oder Dokumentationen beschafft und installiert werden. Im ersten Halbjahr 2020 wurden 13 Millionen Euro ausgezahlt.
Doch dass öffentliche Fördergelder allein eine besondere Dynamik entfalten könnten, glaubt Pharell nicht. "Für die Träger, die bereit sind, sich zu digitalisieren, ist das super." Doch ob solche Gelder von Heimen abgerufen würden, die der Internettechnik aus Prinzip ablehnend gegenüberstehen, sei fraglich. Ohne eine Pflicht zur Digitalisierung sei ein echter Schub nicht zu erwarten, mutmaßt Pharell: Viele Einrichtungen würden sich auch dann nicht mit dem Thema befassen, "wenn dafür viel Fördergeld abgerufen werden kann".
Experten fordern schon länger, Heimbewohnern die digitale Welt zu eröffnen. Doch noch passiert das eher selten: Angebote wie "Videobesuch" sind eher die Ausnahme. Das belegt eine Studie aus dem Jahr 2018: "Das Thema WLAN ist aktuell in der deutschen Pflegelandschaft noch eher unterrepräsentiert. Nur 37 Prozent der befragten Pflegeheime bieten ihren Bewohnern die Möglichkeit einer WLAN Nutzung an", heißt es dort.
Das Problem reicht weit über die Altenpflege hinaus, zeigt eine jüngst erschienene Untersuchung. Geschäftsprozesse und Branchensoftware in sozialen Organisationen seien vielfach noch nicht reif für den digitalen Wandel, lautet eines der zentralen Ergebnisse des IT-Reports, den die Arbeitsstelle für Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) seit zwölf Jahren jährlich aktualisiert herausgibt.
Die Autoren betonen darin, dass schlanke und gut mit IT unterstützte Prozesse eine wichtige Voraussetzung darstellen, um digital unterstützte Hilfsangebote zu entwickeln. Zwar sei das Bewusstsein der Leitungskräfte dafür gewachsen, jedoch bleibe insbesondere die Branchensoftware oft noch hinter den Erwartungen zurück. "Hier liegt wohl ein entscheidender Hemmschuh für einen kräftigen Digitalisierungsimpuls in der Branche."
Was nun dringend passieren muss, ist auch im jüngst vorgestellten achten Altersbericht nachzulesen, den die Bundesregierung in Auftrag gibt. Zu den Empfehlungen der Kommission, die den Report erarbeitet hat, gehört auch, in allen Wohnformen älterer Menschen Internetzugänge bereitzustellen. Zudem müsse es mehr frei verfügbares Internet geben. Weitere Empfehlungen zielen unter anderem auf mehr Unterstützung und Weiterbildung bei digitalen Angeboten.
Der frühere Bundesminister und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), Franz Müntefering, betonte, zur Digitalisierung gebe es keine Alternative. Zugleich warnte er vor einem Überschätzen digitaler Möglichkeiten. Ein großer Teil der Pflegebedürftigen sei schwer krank, bettlägerig oder habe kognitive Einschränkungen. Dass vor allem Menschen für sie da sind, bleibe wichtig.
Kordula Schulz-Asche, Sprecherin für Alten- und Pflegepolitik der Grünen, betonte, für erfolgreiche digitale Anwendungen brauche es zwingend die Qualifizierung des professionellen Pflegepersonals - und natürlich auch der Heimbewohner.
Der Caritasverband Düsseldorf, der die App "Videobesuch" in mehreren seiner Einrichtungen anbietet, will deshalb ein festes Angebot etablieren, um die Medienkompetenzen der Bewohnerinnen und Bewohner zu stärken und sie in ihrer Selbstständigkeit beim Nutzen digitaler Geräte zu fördern. "Dafür sollen weitere Tablets angeschafft werden, die die Bewohner dann ausleihen können", erläuterte Pressesprecherin Stephanie Agethen auf Nachfrage. Und man wolle den "Videobesuch" als dauerhaften Service in allen eigenen Altenzentren anbieten.
Christel Bienstein, ehemalige Professorin für Pflegewissenschaften und Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK), sieht ebenfalls großen Nachholbedarf in den Einrichtungen - nicht nur auf der technischen Ebene. "Ohne Internetkompetenz sind etwa Online-Kontakte zwischen Patienten oder Heimbewohnern unmöglich." Zwar sei in der Corona-Krise schon viel improvisiert worden, etwa mit Tablets. "Aber das alles hat auch seine Grenzen, vor allem bei Menschen mit Demenz. Oder bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen, deren Zahl in den Pflegeheimen rapide ansteigt." Das Problem sei, dass viele Heimbewohnerinnen und Bewohner kognitiv nicht in der Lage sind, diese moderne Technik zu bedienen. "Und auch das Pflegepersonal, das ja eh meist schon an oder über der Belastungsgrenze arbeitet, kann da kaum immer assistieren", betonte Bienstein im Gespräch mit dem epd.
Andreas Kruse, Psychologe und Gerontologe aus Heidelberg, sieht das anders: "Hüten wir uns unbedingt vor der Annahme, dass alle Bewohner von Pflegeheimen mit massiven kognitiven Einbußen konfrontiert wären. Dem ist nicht so." Er ist überzeugt, dass alte Menschen nach Schulungen und mit fachlicher Begleitung eigene Internetkompetenz erwerben können: "Dann sind sogar Menschen mit erheblichen kognitiven Einbußen in der Lage, sich mit bestimmten digitalen Techniken anzufreunden." Das sei in Untersuchungen eindeutig nachgewiesen worden.
Für die nötigen Schulungen und die fachliche Begleitung in den Einrichtungen sieht der Verantwortliche für den achten Altersbericht der Bundesregierung drei Gruppen, die hier tätig werden könnten. Kruse nennt Bewohner, die schon digitale Kompetenzen haben und diese gerne weitervermitteln. Zudem könnten Betreiber von Pflegeheimen eine oder mehrere Fachpersonen beauftragen, dies zu übernehmen. "Und schließlich sollte man nicht vergessen, dass es auch ehrenamtlich interessierte und tätige Personen gibt, die gerne bereit sind, Bewohner im Umgang mit digitaler Technik zu unterstützen", sagte er.