Berlin (epd). Das Bundeskabinett hat am 19. August eine Erhöhung der Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger beschlossen. Sozialexperten und -verbände erklärten einhellig, die Steigerung falle zu gering aus, um eine würdevolle Existenz zu sichern. Die Diakonie kritisierte, Fehler der Vergangenheit würden wiederholt, Armut festgeschrieben und Menschen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Im Zentrum der Kritik stand die Berechnungsmethode. Die Diakonie prangerte wie andere Sozialverbände auch willkürliche Streichungen an.
Das Arbeitsministerium wies die Vorwürfe zurück. Eine Sprecherin von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, die Berechnungsmethode werde den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht und sei "transparent und nachprüfbar". Heil selbst erklärte, es gehöre zum Kern des Sozialstaats, allen Menschen ein Existenzminimum und Teilhabe am sozialen Leben zu garantieren.
Der Regelsatz für Grundsicherungsempfänger wird etwa alle fünf Jahre neu berechnet. Grundlage ist die jeweils aktuelle Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamts, die Auskunft gibt über die Einkommen, Schulden und Konsumausgaben privater Haushalte sowie deren Wohnsituation. Für die Berechnung der Hartz-IV-Sätze werden die Ausgaben der einkommensschwächsten 20 bzw. 15 Prozent der Haushalte herangezogen und davon wiederum Beträge abgezogen, etwa für einen Weihnachtsbaum, Grabschmuck, Speiseeis, chemische Reinigung oder einen Gaststättenbesuch.
Der Gesetzentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium legt die künftigen Regelsätze auf Basis der EVS von 2018 fest. Danach steigen Anfang 2021 die monatlichen Leistungen für einen Hartz-IV-Empfänger um mindestens sieben auf 439 Euro. Kleinkinder bekommen 278 Euro und damit 28 Euro mehr. Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren erhalten 39 Euro mehr, ihre Bezüge steigen auf 367 Euro. Der Satz von 308 Euro für sechs- bis 13-jährige Kinder wird nicht erhöht. Ehegatten und Partner erhalten im kommenden Jahr 395 Euro und damit pro Monat sechs Euro mehr. Von dem Geld müssen alle Ausgaben außer Miete und Heizung gedeckt werden. Die Beträge können sich geringfügig erhöhen, weil die jährliche Anpassung an die Preis- und Lohnentwicklung noch nicht berücksichtigt ist.
Das Deutsche Kinderhilfswerk erklärte, auf den ersten Blick sehe die Anhebung der Beträge für Kinder bis zu sechs Jahren und Jugendliche ab 14 Jahren gut aus, doch werde "lediglich ein Stück weit das nachgeholt, was den Kindern und Jugendlichen durch politisches Herunterrechnen der Regelsätze seit Jahren vorenthalten wird", erklärte Bundesgeschäftsführer Holger Hofmann: "Und dass die Sechs- bis 13-Jährigen mit einer Nullrunde abgespeist werden sollen, ist ein armutspolitischer Skandal."
Ähnlich äußerten sich der Sozialverband VdK, die Nationale Armutskonferenz (NAK), die AWO, die Caritas und Politiker der Grünen und Linken. VdK-Präsidentin Verena Bentele sagte, sieben Euro bedeuteten 23 Cent mehr am Tag: "Armut bekämpfen wir damit ganz sicher nicht."
Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie, monierte, die beschlossene Regelsatzberechnung schreibe die Fehler der Vergangenheit fort. "Es werden beliebig Regelsätze festgelegt, die Armut manifestieren und eine Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben erschweren. Kinder aus Familien, die von der Grundsicherung leben, sind besonders betroffen." Schon jetzt gehörten sie zu den Bildungsverlierern, weil ihnen die notwendige Ausstattung fehlt und sie nicht mithalten können.
Gerwin Stöcken, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, sagte: "Die Neuberechnung der Regelbedarfe überzeugt uns auch diesmal nicht." Seit Jahren sei bekannt, dass die Regelbedarfe zu niedrig ausfallen, um die täglichen Bedarfe sorgenfrei zu decken und ohne Scham und Stigma am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. "Das kann nicht der Anspruch an einen starken Sozialstaat sein. Dieser sollte das menschenwürdige Existenzminimum aller Menschen verlässlich bereitstellen."
Auch die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ging auf Distanz. Bundesgeschäftsführer Jens M. Schubert, rügte, die Regierung habe es mit dem Gesetz versäumt, "den politischen Gestaltungsspielraum bei der Berechnung der Regelbedarfe im Sinne der betroffenen Menschen zu nutzen". Damit blieben spürbare Verbesserungen der finanziellen Situation für über sieben Millionen Grundsicherungsbeziehenden aus.
"Das vorliegende Gesetz wiederholt weitestgehend das kritikwürdige Berechnungsverfahren aus den Jahren 2011 und 2016. Wir hoffen, dass nun im parlamentarischen Verfahren nachgebessert wird", so Schubert.
Die Caritas kritisierte, die Menschen hätten zu wenig Geld für Strom und warmes Wasser. Es sei seit Jahren bekannt, dass ihre Ausgaben doppelt so hoch seien wie die Pauschalen im Regelsatz. Vorstand Eva M. Welskop-Deffaa verwies auf eine gemeinsam mit dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung erstellte Studie, die deutlich zeige, "dass der Anteil für Strom im Regelsatz die tatsächlichen Stromkosten von Grundsicherungsempfängern nicht deckt".
Mit dem Gesetz werden zugleich die Regelsätze für Sozialhilfeempfänger, Rentner und Asylbewerber festgelegt. Sie müssen noch vom Bundestag und Bundesrat beschlossen werden.
Der sozialpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Sven Lehmann, kündigte an, seine Partei werde ein alternatives Konzept zur Regelsatzermittlung ins Parlament einbringen, wonach die Sätze auf rund 600 Euro steigen müssten. Das soziokulturelle Existenzminimum von sieben Millionen Menschen sei nicht gedeckt, kritisierte Lehmann. Linken-Chefin Katja Kipping warf Heil eine Politik der "Verarmung und Vereinsamung" vor.