sozial-Politik

Corona-Krise

Pflegende Familienmitglieder geraten an ihre Grenzen




Pflegende Angehörige sind in der Corona-Krise meist völlig auf sich allein gestellt.
epd-bild/Klaus G. Kohn
Angehörige von Pflegebedürftigen tragen eine große Last. Entweder sind sie schon selbst sehr alt, oder es kümmern sich Töchter und Söhne, die noch arbeiten gehen. In der Corona-Krise kommt die Angst hinzu, dass sie ihre Eltern anstecken könnten.

Heinz Riek (Name geändert) sieht seine Kinder und Enkelkinder seit Wochen höchstens mit rund zehn Meter Abstand: "Zu Ostern haben wir uns im Garten getroffen, aber die Tische weit auseinander", erzählt der 79-Jährige. Der Rentner, der in Haltern am See in Nordrhein-Westfalen lebt, ist vorsichtig und nimmt die Regeln während der Corona-Krise sehr ernst. Er geht kaum nach draußen, nicht einkaufen, die Lebensmittel stellt seine Tochter vor die Tür. Riek gehört nicht nur selbst zur Risikogruppe, sondern pflegt seit fünf Jahren auch seine an Demenz erkrankte 77-jährige Frau.

Für pflegende Angehörige wie Riek bedeutet die Pandemie eine große Belastung. "Viele Hilfen brechen jetzt weg", sagt Susanne Hallermann vom Bundesverband "wir pflegen". Denn: "Tagespflegen sind geschlossen, Freunde können nicht kommen und Pflegedienste arbeiten am Limit."

Tragende Säulen des Systems

Für Hallermann steht außer Frage, dass pflegende Angehörige eine tragende Säule des Pflegesystems und damit systemrelevant sind. Die Zahlen sind eindeutig: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden werden gut zwei Drittel und damit 2,6 Millionen Pflegebedürftige zu Hause versorgt. Davon werden 1,76 Millionen der Betroffenen allein durch Angehörige gepflegt. "Die durchschnittliche Pflegezeit beträgt 63 Stunden in der Woche", sagt Hallermann - das ist auch ohne Corona eine enorme Herausforderung.

Pflegende Angehörige - das sind Lebenspartner wie Helmut Riek. Oder auch Töchter oder Söhne mittleren Alters, die sich um ihre betagten Eltern kümmern und außerdem oft jeden Tag zur Arbeit gehen. Auch Eltern, die ein körperlich oder geistig behindertes Kind versorgen, gehören dazu. "Viele berufstätige pflegende Angehörige können derzeit ohne Unterstützung Beruf und Pflege nicht vereinbaren", sagt Hallermann. Täglich schildern ihr Betroffene am Telefon oder per Brief oder Mail, wie groß die Not ist.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) kennt diese Nöte. Sie appelliert an Bund, Länder und Kommunen, pflegende Angehörige in der aktuellen Corona-Situation besser zu unterstützen. Rund drei Viertel der Pflegebedürftigen und zwei Drittel der demenziell Erkrankten lebten zu Hause. Die meisten von ihnen würden allein durch Angehörige versorgt. "Die bisher ergriffenen Maßnahmen zum Schutz der Pflegebedürftigen in der häuslichen Pflege und zur Entlastung pflegender Angehöriger reichen nicht aus", betonte Vorsitzender Franz Müntefering.

In ihren Empfehlungen an die Politik fordert die BAGSO unter anderem, dass alle an der häuslichen Pflege Beteiligten in ausreichendem Umfang mit Desinfektionsmitteln und Schutzkleidung ausgestattet werden. In den Kommunen müsse eine Notbetreuung sichergestellt sein, um die pflegerische Versorgung auch beim Ausfall der Pflegeperson sicherzustellen. Müntefering: "Pflegende Angehörige benötigen zudem ein frei verfügbares Budget, um flexibel Unterstützung organisieren zu können. Vor dem Hintergrund der außergewöhnlichen Belastungssituation müssen psychosoziale Beratungsangebote sieben Tage die Woche erreichbar sein."

Schnellere Tests für Angehörige

Neben der Arbeitsbelastung kommt derzeit der hohe psychische Druck hinzu: Wer neben der Pflege arbeiten geht, lebt in ständiger Angst, sich zu infizieren, das Virus nach Hause zu tragen und an die pflegebedürftigen nahe stehenden Menschen weiter zu geben. Da diese fast immer zu den Risikogruppen gehören, wäre das lebensgefährlich. Schutzkleidung oder hochwertige Masken sind für die Angehörigen aber kaum zu bekommen. Um ihnen zumindest rasch Klarheit zu verschaffen, ob eine Infektion vorliegt, fordert "wir pflegen" schnellere Tests für die Angehörigen.

Heinz Riek kann ganz gut mit der Situation umgehen: Ein Pflegedienst kommt noch täglich ins Haus, um ihn bei der Pflege seiner Frau zu unterstützen. Sie hat Pflegegrad 4 und braucht Hilfe beim Anziehen, Waschen und beim Toilettengang. "Der Pflegedienst hat mir aber schon mitgeteilt, dass die Unterstützung eingestellt wird, sobald beim Personal ein Corona-Fall auftritt", sagt Riek. Dann wäre er noch mehr gefordert, trotz seines fortgeschrittenen Alters.

Manche pflegende Angehörige schaffen es aber einfach nicht mehr, die Situation zu meistern. "Sie sind so stark belastet, dass sie sich schweren Herzens entschließen, die Pflegebedürftigen ins Heim zu geben", sagt Gerhild Krüger, die eine Angehörigengruppe für Demenzkranke in Haltern leitet. Dieser Schritt falle natürlich sehr schwer, weil die alte Mutter oder der betagte Vater dann derzeit nicht mehr besucht werden dürfen. Und die Kontaktsperre kann gerade bei Demenzkranken dazu führen, dass sie geistig und körperlich weiter abbauen.

Die Angehörigengruppe von Gerhild Krüger kann sich derzeit nicht treffen. Das persönliche Gespräch zwischen den Betroffenen ist wegen der Infektionsgefahr nicht möglich. Für solche Gruppen hat der Verband "wir pflegen" eine digitale Alternative geschaffen: Die App "in.kontakt" ermöglicht es den pflegenden Angehörigen, sich zu verschiedenen Themen auszutauschen und sich in der Krisenzeit gegenseitig Mut zu machen.

Michael Ruffert


Mehr zum Thema

Verband: Die Not der pflegenden Angehörigen ist groß

Für pflegende Angehörige ist die Corona-Krise im Grund eine Katastrophe: Hilfen, die zu den Pflegebedürftigen nach Hause kommen, erhöhen die Infektionsgefahr. Und ohne Hilfen von außen kommen die Angehörigen nicht zurecht.

» Hier weiterlesen