Berlin (epd). Der Personalmangel in den Altenheimen ist vor allem ein Mangel an Assistenzkräften für die Pflege. Das geht aus einem Gutachten der Universität Bremen hervor, das am 25. Ferbruar in Berlin vorgestellt wurde. Der Pflegeökonom Heinz Rothgang geht darin davon aus, dass insgesamt 36 Prozent mehr Pflegekräfte gebraucht werden, um die hohe Arbeitsbelastung zu senken und die Pflegebedürftigen so zu versorgen, wie es nötig wäre - ganz überwiegend qualifizierte Pflegehelferinnen und -helfer.
Ein durchschnittliches Heim mit 100 Bewohnern müsste 55 Pflegekräfte haben statt der heute üblichen 40. Bundesweit käme das einem Zuwachs von 320.000 auf 440.000 Pflegekräfte gleich.
Im Vergleich zum Ist-Zustand würden 69 Prozent mehr Assistenzkräfte mit einer ein- bis zweijährigen Ausbildung benötigt, erläuterte Rothgang, während die Zahl der Fachkräfte um 3,5 Prozent steigen müsste. Umgerechnet bedeute dies, dass gegenwärtig rund 100.000 Assistenzkräfte in den Altenheimen fehlten, sagte Rothgang.
Der Pflege-Experte hat mit einer Wissenschaftlergruppe im Auftrag der Pflegeselbstverwaltung - also unter anderem der Pflegekassen und -anbieter - ermittelt, wie in den Pflegeheimen gearbeitet wird, um herauszufinden, wie künftig der Personalbedarf eines Heims anhand möglichst einheitlicher Kriterien berechnet werden kann.
Das geschah nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege nach der sogenannten Beschattungsmethode. Von April bis Oktober 2018 fand dazu eine wissenschaftliche Erhebung statt. Insgesamt wurden Daten von 1.380 Pflegebedürftigen in vollstationären Einrichtungen erhoben, sowie Daten von 163 Tagespflegegästen in teilstationärer Betreuung. 241 speziell geschulte Pflegefachpersonen "beschatteten" in einer Eins-zu-eins-Zuordnung das Pflegepersonal in den Heimen.
Im Ergebnis haben die Forscher dabei festgestellt, dass die Fachkräfte stärker leiten, organisieren und anleiten müssten, während deutlich mehr Assistenzkräfte sich um die körperlichen und menschlichen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen kümmern sollten. Das Verhältnis von Fach- zu Hilfskräften sei allerdings vom Pflegegrad der Heimbewohner abhängig. Je mehr stark pflegebedürftige Menschen ein Heim versorgt, umso mehr Fachkräfte müssten im Einsatz sein, erklärte Rothgang. Er plädierte dafür, keine starren Quoten vorzugeben, sondern sie nach der Zusammensetzung der Bewohnerschaft zu ermitteln.
Pflege-Anbieter und der Spitzenverband der Pflege- und Krankenkassen begrüßten das Gutachten. Auf dem Arbeitsmarkt gebe es zu wenige Fachkräfte, das Angebot an Assistenzkräften sei größer, sagte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, Gernot Kiefer. Jetzt habe man ein mögliches Personalbemessungsinstrument vorliegen, um den Bedarf an Fach- und Assistenzpflegekräften in einzelnen Pflegeheimen zu bemessen. Und das nach bundeseinheitlichen Maßstäben und auf die jeweilige Bewohner-Struktur zugeschnitten. Kiefer: "Das ist ein großer Fortschritt, um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in den einzelnen Einrichtungen weiter umzusetzen."
Der Chef des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste, Bernd Meurer, sagte: "Jetzt sind die Landessozialministerien am Zug, die eine verlässliche wissenschaftliche Grundlage bekommen, um erste Schritte zur Weiterentwicklung einer starren Fachkraftquote zu gehen." Die Tendenz sei einfach: Je höher der Pflegegrad, desto umfangreicher sind auch die Anforderungen an die Qualifikation.
Maria Loheide vom Vorstand der Diakonie Deutschland betonte, endlich könne man sagen, welcher Personaleinsatz in stationären Pflegeeinrichtungen notwendig sei, um gleichwertigere Pflege- und Lebensbedingungen für Pflegebedürftige zu schaffen. Aber, so stellte sie klar: Allein eine gute Personalbemessung werde die Probleme nicht lösen. Weitere Maßnahmen der Konzertierten Aktion Pflege müssten umgesetzt werden, "die zur konsequenten Entlastung der Pflegekräfte führen sowie durch eine Reform der Pflegeversicherung die Eigenanteile für die Pflegebedürftigen begrenzt werden".
Thomas Knieling, Bundesgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Alten- und Behindertenhilfe, sprach von einem Dilemma. Die vorliegenden Erkenntnisse seien valide, seien aber keine Hilfe, dringend benötigtes Personal zu finden. "Denn der Arbeitsmarkt ist derart leer gefegt, dass schon die bisher aktuellen Stellen nicht zu besetzen sind." Zwar würden im neuen System vor allem zusätzliche Assistenzkräfte benötigt, aber auch hier sei die Arbeitsmarktlage angespannt.
Es zeige sich schon jetzt, dass bei Einführung des neuen Bemessungssystems ein erheblicher Personalmehrbedarf entstehen werde, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele. Sie warnte davor, dass Pflegebedürftige dadurch noch stärker als bisher finanziell belastet werden. "Pflege darf nicht überfordern und schon gar nicht arm machen." Der Anstieg der Eigenanteile in der Pflege muss dringend gestoppt werden."
Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) teilte mit, er erwarte, "dass man zur Finanzierung des dringend notwendigen Stellenaufbaus nicht weiter in die Taschen von Pflegebedürftigen und Kommunen greift. Deren Taschen seien schon heute leer. Um die Betroffenen nicht weiter zu belasten, kann das neue Verfahren der Personalbemessung nach Ansicht von Verbandschef Bodo de Vries "nur einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Grundsatzreform darstellen und muss in ein ganzheitliches Reformkonzept der Pflegeversicherung eingebettet werden". Jetzt gelte es, das neue Verfahren der Personalbemessung mit einer nachhaltigen Finanz- und Strukturreform der Pflegeversicherung zu verbinden.
Der Anteil an Fachkräften in der stationären Altenpflege variiert von Bundesland zu Bundesland und liegt im Bundesdurchschnitt bei etwa 50 Prozent. Den Heimträgern gelingt es derzeit nicht, die zusätzlichen 13.000 Stellen zu besetzen, für die die Bundesregierung Geld zur Verfügung gestellt hat. Ein Grund ist der Mangel an Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt.
Die Ausgaben für das zusätzliche Personal würden sich dem Gutachten zufolge insgesamt auf jährlich etwa vier Milliarden Euro belaufen. Das neue Personalbemessungsinstrument soll schrittweise über eine Dauer von mehreren Jahren eingeführt werden. Dazu ist eine gesetzliche Grundlage notwendig. Bisher ist gesetzlich nur vorgesehen, überhaupt ein einheitliches Verfahren entwickeln zu lassen. Der Abschlussbericht zu den bisher präsentierten Ergebnissen soll Ende Juni vorliegen.