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Familienleistungen

Gastbeitrag

Experte: Verband rechnet Familienarmut künstlich groß




Martin Staiger
epd-bild/privat
Der Deutsche Familienverband beklagt regelmäßig, dass Familien mit Kindern in einer finanziell dramatischen Lage seien. Als Grund nennt er viel zu hohe Sozialabgaben. Doch die Rechnung stimmt nicht, analysiert Sozialexperte Martin Staiger in epd sozial.

"Sozialversicherung treibt Familien weiter in die Armut." Unter diese Überschrift stellen der Deutsche Familienverband und der Familienbund der Katholiken ihren neuesten, seit Jahren immer wieder neu berechneten "Horizontalen Vergleich". Die eingängige Botschaft der Familienverbände: Die Beiträge zur Sozialversicherung, die für Arbeitnehmer mit Kindern beinahe gleich hoch sind wie für Kinderlose, sind für die steigende Familienarmut in Deutschland verantwortlich. "Familienblind" nennen die Verbände die Sozialabgaben und fordern einen Kinderfreibetrag bei den Sozialabgaben, wie es ihn bei der Steuer gibt.

Erschütterndes Rechenergebnis

"Horizontaler Vergleich" heißt, dass die finanzielle Situation von Alleinstehenden ohne Kinder, von Paaren ohne Kinder und Paaren mit einem Kind, mit zwei, drei, vier sowie fünf Kindern mit jeweils gleichen Arbeitseinkünften verglichen wird. Für alle sieben Konstellationen wird bei einem Jahresbruttolohn von 30.000, von 35.000 und von 50.000 Euro der Nettolohn inklusive des Kindergeldes berechnet. Diesen Beträgen wird dann ein Betrag gegenübergestellt, den die Familienverbände als "steuerliches Existenzminimum" bezeichnen. Das errechnete Ergebnis ist erschütternd: Während Alleinstehende und Paare ohne Kinder in allen drei Fällen deutlich über das steuerliche Existenzminimum hinauskommen, reicht bereits bei einem Paar mit einem Kind das aus Nettolohn und Kindergeld bestehende Familieneinkommen bei 30.000 Euro brutto nicht aus, um diese Grenze zu erreichen. Paare mit vier und fünf Kindern rutschen selbst mit 50.000 Euro Bruttojahreseinkommen deutlich unter die Grenze.

Dass viele Familien finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet sind, ist bekannt, die Berechnungen der Familienverbände überzeichnen die Situation jedoch deutlich. Dies liegt unter anderem daran, dass es verschiedene Begriffe des "Existenzminimums" gibt und die Familienverbände sich für ihre Berechnungen den Begriff aussuchen, der die Situation von Familien am dramatischsten darstellt.

"Sächliches Existenzminimum" oder "steuerlicher Freibetrag"

Zu unterscheiden ist das sogenannte "sächliche Existenzminimum", das alle zwei Jahre von der Bundesregierung im sogenannten Existenzminimumbericht bestimmt wird, und der "steuerliche Freibetrag" nach dem Einkommensteuergesetz. Das sächliche Existenzminimum entspricht dem Regelbedarf nach den Sozialgesetzbüchern II und XII, der oft als "Hartz-IV-Satz" bezeichnet wird, plus den durchschnittlichen Wohnkosten anhand der Wohngeldstatistik. Das monatliche sächliche Existenzminimum von Alleinstehenden beträgt 764 Euro, für Ehepaare gilt nächstes Jahr ein Wert von 1.295 Euro, für Kinder wird das Existenzminimum mit 408 Euro pro Monat bestimmt. Bei der Beurteilung dieser Beträge ist zu beachten, dass die Wohnkosten nicht gleichmäßig nach Köpfen verteilt sind, sondern zum Großteil den Eltern zugerechnet werden.

Der "steuerliche Freibetrag" für alleinstehende Erwachsene entspricht dem sächlichen Existenzminimum von 764 Euro pro Monat, für Ehepaare gilt der doppelte Betrag, der mit 1.528 Euro pro Monat wesentlich höher liegt als das sächliche Existenzminimum. Für Kinder sind auf den Monat umgerechnet 635 Euro steuerfrei. Zum Vergleich: Das sächliche Existenzminimum beträgt 408 Euro pro Monat.

Der das sächliche Existenzminimum übersteigende Betrag ist für "den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes" (§ 32 Abs. 6 Satz 1 Einkommensteuergesetz) vorgesehen. Für am Existenzminimum lebende Familien wird dieser Bedarf jedoch nach den gesetzlichen Bestimmungen in voller Höhe übernommen, er kann also nicht dem Existenzminimum zugerechnet werden.

Familienleistungen nicht berücksichtigt

Rechnet man mit dem sächlichen Existenzminimum, stellt sich die Situation undramatischer dar als von den Familienverbänden dargestellt. 30.000 Euro brutto im Jahr reichen für Ehepaare mit einem Kind und mit zwei Kindern noch aus, um das Existenzminimum zu decken, ab drei Kindern allerdings nicht mehr. Mit 50.000 Euro Jahresbrutto kommen jedoch auch Ehepaare mit fünf Kindern deutlich über das Existenzminimum.

Um zu beurteilen, ob 30.000 Euro im Jahr bei Familien mit drei und mehr Kindern ausreichen, das Existenzminimum zu decken, müssen jedoch auch mögliche Sozialleistungen eingerechnet werden. Bei Familien mit mehreren Kindern sind das insbesondere das Wohngeld und der Kinderzuschlag. Und siehe da: Familien mit drei, vier und fünf Kindern haben alle einen Anspruch auf Wohngeld und auf Kinderzuschlag und kommen alle deutlich über das sächliche Existenzminimum.

Das von den Familienverbänden zugrunde gelegte "steuerliche Existenzminimum" wird jedoch von Familien mit 30.000 Euro brutto und drei, vier oder fünf Kindern nicht erreicht. Falls Betreuungsleistungen benötigt werden, besteht jedoch in vielen Fällen ein Anspruch auf Ermäßigung der Gebühren - und ab 1. August 2019 tritt der Rechtsanspruch auf volle Gebührenbefreiung für Familien, die Wohngeld oder Kinderzuschlag erhalten, in Kraft.

Kritik geht am Kern des Problems vorbei

In Anbetracht der Rechtslage kritisieren die Familienverbände damit am Kern des Problems vorbei. Nicht die Beiträge zur Sozialversicherung sind das Problem. Das Problem ist ein völlig unübersichtlich gewordenes Konglomerat von Familienleistungen, die vermutlich von einem Großteil der Anspruchsberechtigten gar nicht beantragt werden und die zum Teil zu nicht stringenten Wechselwirkungen führen. Anstatt auf die Sozialversicherung einzuprügeln, sollten sich die Familienverbände an dieser Stelle engagieren.

Ein letzter Aspekt: Die von den Familienverbänden zu den Profiteuren der gesetzlichen Regelungen hochstilisierten Alleinstehenden ohne Kinder weisen eine wesentlich höhere Armutsquote als Zwei-Eltern-Familien auf. Vielleicht sollte man einen Interessenverband für Alleinstehende gründen.

Martin Staiger ist in der sozialrechtlichen Fortbildung von Sozialarbeitern und als Publizist tätig.