sozial-Politik

Rente

"Koppelung der Lebensarbeitszeit mit Lebenserwartung vernünftig"




DIW-Präsident Marcel Fratzscher im Interview
epd-bild/Norbert Neetz
Die Lebenserwartung der Menschen muss nach der Überzeugung des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, in der gesetzlichen Rentenversicherung stärker Berücksichtigung finden.

"Wenn die Menschen immer älter werden, müssen sie auch länger arbeiten. Ich halte eine Koppelung der Lebensarbeitszeit mit der Lebenserwartung für vernünftig", sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Rentenversicherung müsse außerdem beachten, dass Geringverdiener eine bis zu zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben als Gutverdiener. Das Interview mit Fratzscher führten Markus Jantzer und Dirk Baas. Lesen Sie den zweiten Teil des Interviews in dieser Ausgabe.

epd: Die gesetzliche Rente steht unter Druck. Rentenkürzungen und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit werden stets mit dem demografischen Wandel begründet. Sticht das Argument wirklich?

Fratzscher: Die gesetzliche Rente ist ein Generationenvertrag. Wenn die Alten mehr bekommen - einfach weil es mehr von ihnen gibt -, dann findet eine Umverteilung von Jung zu Alt statt. Das hat Auswirkungen auf die Rentenbeiträge. Und hier gibt es eine Grenze des wirtschaftlich Leistbaren. In Deutschland werden im internationalen Vergleich mit über 20 Prozent vom Bruttolohn sehr hohe Sozialbeiträge bezahlt. Das ist ein Wirtschaftsfaktor.

epd: Also wird auch in Zukunft eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit unvermeidlich sein?

Fratzscher: Es gibt im Rentensystem verschiedene Stellschrauben: Man kann die Beiträge erhöhen, man kann auch das Rentenniveau senken. Aber beides hat enge Grenzen. Für mich steht fest: Wenn die Menschen immer älter werden, müssen sie auch länger arbeiten. Ich halte eine Koppelung der Lebensarbeitszeit mit der Lebenserwartung für vernünftig. Für ein Jahr längeres Leben ist es notwendig, acht Monate länger zu arbeiten. Nur so lässt sich die höhere Lebenserwartung finanzierungsneutral halten. Viele Menschen wollen auch länger arbeiten. Sie sollten nach meiner Auffassung auch die Möglichkeit dazu bekommen.

epd: Mit welchen Maßnahmen könnte die gesetzliche Rentenversicherung zusätzlich gestärkt werden?

Fratzscher: Die wichtigste Stellschraube ist eine höhere Beschäftigung, denn diese beschert der Rentenkasse höhere Einnahmen, hilft somit den Älteren, ohne den einzelnen jungen Menschen stärker zu belasten. Die Zuwanderung in den vergangenen zehn Jahren hat sich äußerst positiv auf die finanzielle Situation der Rentenkasse ausgewirkt. Auch in Zukunft wird es so sein, dass nur mit Hilfe der Zuwanderung aus dem Ausland die Arbeitsplätze besetzt werden können.

Vor allem aber müssen Frauen mehr Chancen bekommen, Vollzeit zu arbeiten. In Deutschland sind im internationalen Vergleich überdurchschnittlich viele Frauen in Teilzeit beschäftigt. Wir haben zu wenige Kitaplätze und zu wenige Ganztagsschulen. Völliger Irrsinn ist das steuerliche Ehegattensplitting. Es führt dazu, dass Frauen für das gleiche Gehalt deutlich höhere Steuern abführen müssen als Männer.

epd: Forscher Ihres Instituts schlagen vor, Gutverdiener stärker heranzuziehen. Dazu empfehlen sie, die Beitragsbemessungsgrenze von knapp 7.000 Euro, ab der keine Rentenbeiträge mehr bezahlt werden müssen, zu erhöhen oder gar zu streichen. Außerdem bringen sie in die Debatte, dass auch Bezieher anderer Einkommensarten in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen sollten.

Fratzscher: Dies ist sinnvoll, auch wenn es alleine nicht ausreichen wird. Beamte einzubeziehen, würde allerdings helfen. Aber: Mehr Beschäftigung ist das deutlich effektivere Instrument, um die gesetzliche Rentenversicherung finanziell zu stärken.

epd: Ihre Kollegen stellen auch das bestehende Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung in Frage. Nach diesem Prinzip erhalten alle Beitragszahler für einen Euro, den sie jeden Monat mit ihrem Gehalt einzahlen, als Rentner monatlich denselben Geldbetrag zurück.

Fratzscher: Das bestehende Äquivalenzprinzip ist eine Mogelpackung. Denn das gegebene Versprechen wird nicht gehalten. Es bekommt eben nicht jeder für einen Euro, den er in die Rentenkasse einzahlt, denselben Betrag wieder heraus. Das liegt daran, dass Bezieher niedriger Einkommen eine bis zu zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben als Gutverdiener. Ihre Zeit in Rente ist also deutlich kürzer. Diese Tatsache wird bei den Rentenansprüchen nicht berücksichtigt.

epd: Die Steuereinnahmen sprudeln. Warum sollte der Steuerzuschuss für die Rentenkasse nicht - sagen wir – jährlich um 20 Milliarden Euro erhöht werden? Zumal viele Leistungen aus der Rentenkasse finanziert werden, die gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind.

Fratzscher: Ja, das ist eine Option – belastet aber auch die jungen Menschen. Im Augenblick mangelt es nicht an Geld. Ich gebe allerdings zu bedenken, dass es einem durch Steuern bezuschussten System an Transparenz mangelt.

epd: In der Pflege liegt die Personallücke nach Schätzungen bei rund 50.000 zusätzlichen Pflegefachkräften. Wer ehrlich ist, wird zugeben: Diese Personalstärke wird nicht zu erreichen sein. Brauchen wir also nicht, um den Versorgungsbedarf wirklich decken zu können, einen grundlegenden Kurswechsel in der Pflegepolitik?

Fratzscher: Die geplanten Reformen wie Erhöhung der Pflegebeiträge und Erhöhung der Pflegelöhne sind gut und richtig. Aber sie lösen das grundlegende Problem nicht.

epd: Müssen in Deutschland nicht Angehörigenpflege und Nachbarschaftshilfe viel stärker gefördert werden? Denn wenn diese Förderung erfolgreich ist, dann schrumpft der Bedarf an professionellen Pflegekräften.

Fratzscher: Es ist schön, wenn die Familie die Pflege übernimmt. Aber die Betroffenen sollten die Wahl haben. Sie müssen sich die berufliche Auszeit für Pflege auch leisten können. Die Pflegearbeit muss mehr Anerkennung – und dann auch eine höhere Vergütung – erfahren. Was zu wenig beachtet wird: Diese Menschen gehören zu den Leistungsträgern unserer Gesellschaft. Nicht nur Gutverdiener sind Leistungsträger.

epd: "Wohlstand für alle": Das war das von Ludwig Erhard, dem Vater der sozialen Marktwirtschaft, ausgegebene Leitbild. Daran haben sich deutsche Bundeskanzler Jahrzehnte lang gehalten. Was ist daraus geworden?

Fratzscher: Das ist ein schönes Ideal, ja ein essenzielles Ideal für unsere soziale Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft ist der Grund, warum wir in Deutschland heute so viel Wohlstand und einen so starken Sozialstaat haben. Aber dieses Ideal gilt für immer weniger Menschen. Für mich ist das Problem gar nicht so sehr, dass die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen steigt. Für mich ist der wirkliche Widerspruch zur sozialen Marktwirtschaft die fehlende Chancengleichheit. In Deutschland hängt das, was Sie aus Ihrem Leben machen, ungewöhnlich stark davon ab, in welcher Familie Sie geboren werden. Das ist auch die Kernthese meines Buches "Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird", für das ich böse Reaktionen erhalten habe. Ludwig Erhards Anspruch, jeder sollte für sein Leben Eigenverantwortung übernehmen können, gilt für immer weniger Menschen in Deutschland.

epd: Der Niedriglohnsektor wächst in Deutschland seit mehr als 20 Jahren. Wir sind hier im negativen Sinne spitze in Europa. Gibt es Anzeichen dafür, dass sich das wieder ändert?

Fratzscher: Ich habe die Hoffnung, dass mit dem Wirtschaftsboom, den wir derzeit haben, sich ein bisschen was verändert. Denn der Fachkräftemangel nimmt zu. Es gibt einfach viele offene Jobs. Meine Hoffnung ist, dass dadurch Menschen nach oben rücken und sich besser stellen können. Auch für Flüchtlinge sehe ich die Chance, dass sie in – wenn auch zunächst niedrig bezahlte - Jobs kommen. Das löst dann einen positiven Effekt für die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus: Diese rutschen in die etwas besser bezahlten Jobs hoch.

epd: Mit einer anhaltend guten Konjunktur wird alles wieder gut?

Fratzscher: Bei all dem bleibt Bildung das A und O. Das fängt schon in den Kitas an. In unseren Forschungsstudien stellen wir immer wieder fest, dass Deutschland hier besser werden muss. Wenn ein Kind bis zum Alter von sechs Jahren nicht die Chance bekommen hat, sich im kognitiv-sozialen Bereich ausreichend zu entwickeln, ist das kaum noch aufzuholen. Junge Menschen, die keinen Schulabschluss haben, werden es in ihrem Leben kaum schaffen, auf eigenen Füßen zu stehen. Beim Thema Bildung und Qualifizierung muss Deutschland neu denken und auch Neues ausprobieren. Eine Möglichkeit wäre ein sogenanntes Lebenschancenkonto oder Lebenschancenerbe. Hier werden Menschen nach ihrer Ausbildung zweckgebunden 30.000 Euro zur Verfügung gestellt, damit sie es für Weiterbildung verwenden oder sogar einen neuen Beruf lernen können.

epd: Nach dem Motto "fördern und fordern"?

Fratzscher: Das überstrapazierte "Fördern und fordern" ist wichtig. Wir müssen das Sozialsystem so umbauen, dass es den Menschen mitnimmt. Und "Menschen mitnehmen" heißt, dass ihnen eine wirkliche Teilhabe ermöglicht wird. Das bedeutet auch, sie zu fordern. Das Lebenschancenkonto ist Teil eines Konzepts, mit dem es gelingen könnte. Über solche Konzepte müssen wir nachdenken. Die nordischen Länder haben damit schon angefangen.

epd: Sind diese Konzepte bereits in der deutschen Politik angekommen?

Fratzscher: Im Weißbuch des Bundesarbeitsministeriums werden sie zumindest erwähnt. Wir sind hier noch auf sehr niedrigem Niveau. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung versucht, das Thema in der Forschung zu pushen. Ich persönlich bin in einer Stiftung, die diesen Weg zu gehen versucht. Wir müssen als Gesellschaft damit jetzt beginnen.