sozial-Politik

Jugendverbände

"Kampf gegen Kinderarmut steht nicht oben auf der Agenda"




Bernd Wildermuth
epd-bild/AEJ
Die Christlichen Jugendverbände haben ein Ökumenisches Sozialwort veröffentlicht. Es ist 68 Seiten dick, und hat es in sich: Im Kern geht es um die Frage, wie Kinderarmut effektiv bekämpft werden kann, sagt Bernd Wildermuth, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland (aej), im Interview mit dem epd.

Das Sozialwort ist laut Bernd Wildermuth auch ein Zeichen gegen den neoliberalen Zeitgeist. Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend und die aej wollen Einfluss nehmen auf die künftige Politik. Ihr Ziel ist der erfolgreichere Kampf gegen Kinderarmut in Deutschland, "ein dickes Brett", wie Wildermuth bekennt. Dabei bleiben sie nicht im Vagen, sondern legen präszise dar, woher das dringend benötigte Geld kommen soll. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Seit Jahren steht der Kampf gegen Kinderarmut auf der politischen Agenda, ist auch jetzt wieder Thema in zahlreichen Wahlkampfreden. Warum lässt sich die Schere zwischen arm und reich so schwer schließen?

Bernd Wildermuth: Dieser Kampf steht vielleicht auf der Agenda, aber definitiv nicht oben. Vieles scheint wichtiger. Und der neoliberale Zeitgeist flüstert allen, nicht nur den Politikern, "selber schuld!" ins Ohr.

epd: Die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland und der Bund der Deutschen Katholischen Jugend haben ein „Sozialwort der Jugend“ verabschiedet, das ebenfalls fordert, den Reichtum anzutasten, um die Kinderarmut einzudämmen. Eine Punktlandung im Wahlkampf?

Wildermuth: Inhaltlich auf jeden Fall. Aber in den öffentlichen Debatten in diesem Wahlkampf wird fast ausschließlich über die Tabubrüche der AfD diskutiert. Die Inhalte treten in den Hintergrund. Aber: Die Fragen und Probleme, die im Sozialwort dargestellt werden, müssen spätestens nach dem 24. September beantwortet werden. Und da haben aej und BDKJ Handwerkszeug für die Inhalte erarbeitet, um sich in die politischen Entscheidungsprozesse einzumischen.

epd: Das Papier ist 68 Seiten stark und enthält Aussagen etwa aus den Feldern Teilhabe, Freiheit, Umwelt, Arbeit und Bildung. Ging es nicht etwas kompakter?

Wildermuth: Wenn sie sich inhaltlich mit all diesen Themen auseinandersetzen, dann sind 68 Seiten in DIN A5 schon ziemlich kompakt. Aber Sie haben natürlich recht: 68 Seiten können nicht kompakt rezipiert werden. Deshalb haben wir uns auch dazu entschieden, in jeder Septemberwoche ein Thema durch eine Pressemitteilung in den Fokus zu rücken.

epd: Das Sozialwort will auch visionäre Ideen entwickeln und animieren, sich einzumischen, „… damit die Welt zusammenhält“. Wie lässt sich diese Welt ein wenig besser machen?

Wildermuth: Indem wir diese Gesellschaft an elementare Bilder aus der christlichen Tradition erinnern. Zum Beispiel an das Bild von Gemeinschaft als Leib, das in genialer Weise verdeutlicht: "Ja, wir sind alle unterschiedlich, aber wenn ein Teil dieses Leibes leidet, dann kümmern sich die anderen darum." Das Leitbild, dass momentan unsere westlichen Gesellschaften bestimmt, lautet aber: „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“ Da sind Opfer ganz fest mit einkalkuliert.

epd: Sie sagen, der Sinn von Reichtum besteht darin, anderen Menschen zu helfen und sie zu unterstützen? Das klingt vor allem nach Umverteilung von Finanzen.

Wildermuth: Der Staat macht in weiten Teilen ja nichts anderes als Finanzen umzuverteilen. Und wenn vorgegeben wird, sich rauszuhalten, macht er es erst recht, wie das Beispiel der privat finanzierten Autobahnen zeigt. Da werden Steuergelder in erheblichem Umfang Investoren zur Verfügung gestellt, damit die Spitze der Gesellschaft in Zeiten der Niedrigzinsen gesicherte Renditen bekommt. Das sagt niemand, aber das ist eine Form der Umverteilung von unten nach oben. Wenn es schief geht, wie sich derzeit zeigt, dann werden die Kosten auf alle verteilt.

epd: Reiche geben oft nicht gerne Geld ab. Und sie haben viel Einfluss auf die Politik. Das scheint Sie nicht zu entmutigen.

Wildermuth: "Denn die da harren auf den Herrn, bekommen neue Kraft", heißt es beim Propheten Jesaja, als das Volk Israel in einer scheinbar ausweglosen Situation ist. Und ich würde "Reiche" auch niemals pauschal verunglimpfen. Viele wollen mit ihrem Geld helfen die Welt zu verbessern und auch dafür sorgen, dass sie zusammenhält.

epd: Ihre beiden Organisation fordern einen grundlegenden Perspektivwechsel zur Armutsbekämpfung. Was läuft bisher falsch in der Politik und wohin sollte die Reise gehen?

Wildermuth: Es bedarf einer grundlegenden Haltungsänderung: Die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Wirtschaft. Wenn das Engagement und so viele Mittel, wie 2008 zur Rettung der Banken freigesetzt wurden, zur Bekämpfung von Armut eingesetzt werden, dann stimmt die Richtung.

epd: Sie haben nicht nur eine Agenda aufgeschrieben, sondern auch konkrete Vorschläge zur Finanzierung Ihrer Ideen notiert, etwa die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die Einführung des Familiensplittings, eine Vermögenssteuer oder eine „Luxussteuer“ zur Ergänzung der Mehrwertsteuer. Wie realistisch ist die Umsetzung dieser Forderungen nach der Wahl?

Wildermuth: Das hängt ganz sicher von den politischen Konstellationen nach der Wahl ab und ob es der Zivilgesellschaft gelingt, "soziale Gerechtigkeit" und "Armutsbekämpfung" ganz nach oben auf die politische Agenda zu heben. Das sind zum Teil dicke Bretter. Nehmen sie die immer wieder mal diskutierte Finanztransaktionssteuer. Sie ist weiterhin nicht in Sicht.

epd: Weitere Forderungen sind das Grundrecht auf Asyl ohne Einschränkung, Schaffung legaler Zuwanderungswege oder die Abschaffung der Residenzpflicht für Asylbewerber. Konservative und Rechtspopulisten wollen genau das verhindern. Weshalb machen Sie gegen jegliche Abschottungspolitik mobil?

Wildermuth: Weil Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, vor allen anderen Zuschreibungen sind wir alle und ausnahmslos Ebenbilder Gottes. Das ist der christliche Hintergrund der Menschenwürde. Erst kommt der Mensch, dann die Staatsangehörigkeit. Alles andere rüttelt an den Grundfesten unserer demokratischen Gesellschaft. Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes war das vier Jahre nach der Naziherrschaft noch sehr bewusst. Es hieß ganz schlicht: Politisch Verfolgte genießen Asyl. Heute meinen manche Politiker, man müsste der Forderung nach mehr Unmenschlichkeit ein Stück entgegenkommen, um Schlimmeres zu verhindern. Ich halte das für grundfalsch.

epd: Auch in der Bildungspolitik sehen Sie mit Blick auf den Kampf gegen Kinderarmut massive Defizite? Wo liegen die größten Aufgaben vor uns?

Wildermuth: Im Letzten OECD-Bericht wurde Deutschland für den Ausbau der frühkindlichen Bildung gelobt. Wenn diese Bildung beitragsfrei wäre, würde ein weiterer und wichtiger Schritt im Kampf gegen Kinderarmut getan. Und in der Schulpolitik muss alles getan werden, damit es zu keinem Zwei-Klassen-Bildungssystem kommt. Dazu gehören dann auch Rahmenbedingungen wie ein gutes und günstiges Mittagessen und der Ausbau der Schulsozialarbeit. Denn Schule ist heute nicht nur ein Lern-, sondern auch ein Lebensort.

epd: Reden wir zum Schluss noch über eine weitere konkrete Forderung: Das bedingungslose Kinder- und Jugendgrundeinkommen. Wie soll das Aussehen und was versprechen Sie sich ganz konkret davon?

Wildermuth: Das bedingungslose Kinder- und Jugendgrundeinkommen ist "BAföG für alle." Es geht um die Förderung und Bildung von Geburt an, um die Teilhabemöglichkeit von allen Kindern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben. Das bedingungslose Kinder- und Jugendgrundeinkommen ermöglicht die Chancengleichheit, die alle immer fordern. Es wird ein Aushandlungsprozess sein, wie hoch dieses Einkommen angesetzt wird. Eine Verdoppelung des Kindergeldes bei gleichzeitiger Umwandlung des Kindergeldes in ein bedingungsloses Kinder- und Jugendgrundeinkommen wäre ein Einstieg.

Der württembergische Landesjugendpfarrer Bernd Wildermuth ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland

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