Ausgabe 31/2017 - 04.08.2017
Stuttgart (epd). Vor 500 Jahren wurde durch die Reformation ein gesellschaftlicher Wandel in Gang gesetzt, der bis heute fortwirkt. Soziale Ungerechtigkeit, mit verursacht durch die Kirche, wurde angeprangert. Mit der individuellen Gewissensentscheidung und dem individuellen Glauben wurde der Mensch in den Mittelpunkt gerückt und damit seine Freiheit und seine Fähigkeit mitzugestalten. Mit diesem Menschenbild wurde die Reformation zu einer wichtigen Grundlage für die Aufklärung, für das Konzept der Menschenrechte und für die Demokratie.
Auch 500 Jahre nach der Reformation befinden wir uns im Wandel, und es wird deutlich, dass Demokratie nicht von alleine dauerhaft selbstverständlich ist. Gründe für den Wandel, den wir erleben, liegen in der Globalisierung der Märkte und der Kommunikation, in der technologischen Entwicklung (Digitalisierung), die nicht nur die Arbeitswelt gravierend verändert, sondern auch alle anderen Lebensbereiche, und in den weltweiten Fluchtbewegungen. Deutschland steht vor der Herausforderung, sich vom Einwanderungsland hin zu einer Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln.
In den Veränderungen, die der Wandel mit sich bringt, liegen zwar große Chancen, es besteht aber auch die Gefahr, dass eine zunehmende Anzahl von Menschen sich abgehängt fühlen und Ängste um ihre eigene Zukunft entwickeln. Misstrauen gegenüber der Politik, Ressentiments und Abwehr gegenüber (neu) eingewanderten Menschen und ein Erstarken von Demokratiefeindlichkeit und Rassismus sind Phänomene, die wir vor diesem Hintergrund deutlich wahrnehmen und die große Herausforderungen für unsere Gesellschaft mit sich bringen.
Daher sind alle gesellschaftlichen Akteure gefordert, den Wandel so mitzugestalten, dass die Menschen mitgenommen werden und eine positive Lebensperspektive für sich entwickeln können. Junge Menschen mit schlechten Startvoraussetzungen sind hier besonders betroffen und können im aktuellen Wandel schnell an den Rand der Gesellschaft geraten. Daher ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich besonders um sie zu kümmern. Dazu kann und muss die Jugendsozialarbeit ihren Beitrag leisten. Sie wird heute mehr denn je gebraucht, muss auf die Lebenssituation und die Bedarfe von Jugendlichen reagieren, vor Ort zur Lösung von Problemen beitragen, präventiv tätig sein und sich für die Demokratie stark machen.
Wo liegen in der aktuellen Situation die Herausforderungen und Aufgaben der Jugendsozialarbeit? Wohin muss sie aufbrechen, wen braucht sie als Begleiter und Unterstützer und was muss sie im Gepäck haben? Wie kann der eigenständige Bildungsauftrag der Jugendsozialarbeit besser zur Wirkung gebracht werden? Wann muss Jugendsozialarbeit breit aufgestellt und niedrigschwellig agieren und wann sind ganz spezifische Angebote notwendig?
Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Fragen ist sinnvollerweise der Blick auf die Jugendlichen selbst, verbunden mit der Frage, was sie brauchen. Dazu haben wir, die Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit gemeinsam mit dem Diakonischen Werk Mecklenburg-Vorpommern, uns vorwiegend im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern umgeschaut. Hier werden in den meist ländlich geprägten Regionen aktuelle Entwicklungen und Probleme teilweise wie unter einem Brennglas deutlich. Gerade deswegen lassen sich hier aber auch interessante Ansätze in der Praxis der Jugendsozialarbeit finden, die die durch den Wandel bedingten Veränderungen aufgreifen.
In Anlehnung an die Thesen, die vor 500 Jahren den Prozess der Reformation in Gang setzten, haben wir auf der Grundlage unserer Erkundung fünf Thesen formuliert, die als hilfreiche Wegweiser für die Jugendsozialarbeit generell dienen können:
These 1: Jugendliche im ländlichen Raum brauchen Angebote und Perspektiven
Im ländlichen Raum sind Jugendliche durch den demografischen Wandel und Strukturveränderungen besonders davon betroffen, dass spezifische Freizeitangebote, außerschulische Bildungsangebote und Ausbildungsmöglichkeiten wegbrechen. Ganz bewusst und gezielt muss hier in die Infrastruktur investiert werden. Die Jugendsozialarbeit muss dahin kommen können, wo die Jugendlichen leben.
These 2: Jugendliche in der Schule brauchen mehr als Unterricht
Neben einem durchstrukturierten Ganztag in der Schule verlangt die Lebenswelt von Jugendlichen auch andere Erfahrungsräume, die nicht im Kontext von Schule organisiert sind. Sozialräumliche eigenständige Angebote der Jugendsozialarbeit müssen ausgebaut und auf solide finanzielle Füße gestellt werden.
These 3: Jugendliche brauchen zum Teil andere Formen des beruflichen Lernens
Nicht jeder Jugendliche schafft problemlos den Einstieg in eine Ausbildung. Neben der Möglichkeit einer sozialpädagogischen Begleitung während der Ausbildung muss es daher verstärkt auch niedrigschwellige Angebote geben, in denen durch produktives Lernen eine Heranführung an eine berufliche Qualifizierung möglich ist.
These 4: Jugendliche brauchen Wertschätzung und Beteiligung
Du bist wertvoll vor jeder Leistung! Diese Gewissheit brauchen Jugendliche, um sich entfalten und ihre Fähigkeiten entwickeln zu können und um sich eigenverantwortlich in ihrem Lebensumfeld und in der Gesellschaft beteiligen zu können. Neue Wege und Formen, Beteiligung zu ermöglichen, müssen entwickelt und erprobt werden.
These 5: Jugendliche über 18 Jahre brauchen Hilfe bevor sie zum "Fall" werden
Auch junge Volljährige, die sozialpädagogischen Unterstützungsbedarf haben, brauchen eine angemessene Begleitung und eine ihrem Bedarf entsprechende Förderung. Die Möglichkeiten der Jugendhilfe enden aber meist bei Vollendung des 18. Lebensjahres. Hier muss mehr investiert werden, um passende Angebote entwickeln und vorhalten zu können.
Einblicke in die Praxis der Jugendsozialarbeit zeigen, dass vielversprechende Konzepte, Projekte und Erfahrungen existieren, die Impulse zu den fünf Thesen geben. Damit diese Impulse nicht nur punktuell sondern insgesamt in der Gesellschaft wirken können, müssen sie bekannt, verstetigt und ausgebaut werden. Ein Austausch darüber muss stattfinden, nicht nur unter den Fachkräften der Jugendsozialarbeit. Alleine kann sie die anstehenden Aufgaben nicht stemmen. Mitstreiterinnen und Mitstreiter werden gebraucht. Insbesondere die Politik ist gefordert, im Zusammenspiel von kommunaler, Landes- und Bundesebene die Jugendsozialarbeit zu stärken. Denn: Sie wird mehr denn je gebraucht!