sozial-Branche

Migration

Gastbeitrag

Aufbau muslimischer Wohlfahrtspflege braucht viel Zeit




Michael Kiefer
epd-bild/privat
Die Ansätze, muslische Strukturen in der Wohlfahrtspflege zu schaffen, sind noch recht jung. Es bleibt ein schwieriges Unterfangen, auch weil den Muslimen in Deutschland institutionelle Strukturen meist fremd sind. Immerhin Modellprojekte laufen bereits - doch bis zu einer übergeordneten Verbandsgründung werden noch Jahre vergehen, schreibt Michael Kiefer in seinem Gastbeitrag für epd sozial.

Als 1961 in Bonn das Anwerbeabkommen mit der Türkei abgeschlossen wurde, konnte niemand voraussehen, dass der danach einsetzende Zuzug muslimischer Arbeitnehmer und der spätere Familiennachzug Deutschland nachhaltig verändern würde. Im Laufe der nachfolgenden fünf Dekaden veränderte sich das weitgehend christlich geprägte Land zunehmend in eine pluralisierte Zuwanderungsgesellschaft, in der verschiedene muslimischen Denominationen im Alltag seit vielen Jahren deutlich erkennbar sind.

Folgt man offiziellen Schätzungen, die die Flüchtlingszahlen aus dem Jahr 2016 mitberücksichtigen, leben mittlerweile rund 4,7 Millionen Menschen aus muslimischen Sozialisationskontexten in Deutschland.

In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens versucht die Politik in Bund und Ländern seit einigen Jahren diesem Sachverhalt gerecht zu werden. So haben einige Bundesländer einen islamischen Religionsunterricht eingeführt. Bewegung gab es auch in den verschiedenen Seelsorgebereichen. Zumindest in den großen Städten des Landes ist eine muslimische Notfall- oder Krankenhausseelsorge keine Seltenheit mehr.

Muslimische Träger gibt es nur sehr selten

Anders sieht es in den großen Handlungsfeldern der öffentlichen Wohlfahrtspflege aus. Wer in den urbanen Siedlungsräumen Ausschau hält nach muslimischen Kindergärten, Seniorenzentren oder Beratungsstellen, wird in der Regel nicht fündig. Nur vereinzelt gibt es Angebote muslimischer ambulanter Pflege. Von Muslimen geführte Trägereinrichtungen haben einen Seltenheitswert und so verwundert es nicht, dass es im Reigen der großen Spitzenverbände, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) vereint sind, seit Jahrzehnten keine signifikanten Veränderungen gegeben hat.

Die Gründe für das Fehlen muslimischer Verbandsstrukturen in der Wohlfahrtspflege sind vielfältig. Zunächst kann darauf hingewiesen werden, dass in Deutschland bis in die 90iger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die Verbleiborientierung der zugewanderten Muslime weitgehend ignoriert wurde. Für den Aufbau von Trägerstrukturen sah die Politik keine Notwendigkeit. Allenfalls interkulturelle Öffnungsprozesse bei den bereits vorhandenen Organisationen wurden für notwendig erachtet. Insbesondere die Arbeiterwohlfahrt (AWO) entwickelte für die zumeist aus der Türkei stammenden muslimischen Zuwanderer spezielle Angebote.

Institutionelle Strukturen sind Muslimen unbekannt

Weitere Ursachen können im Kontext der muslimischen Gemeinschaften verortet werden. Anders als bei den christlichen Religionsgemeinschaften kennen Muslime keine institutionellen Strukturen. Das hat vor allem theologische Gründe. Im Islam ist das Verhältnis des Gläubigen zu Gott unmittelbar bestimmt. Eine kirchenähnliche Struktur mit Priesterschaft ist daher nicht erforderlich.

Das muslimische Gemeindeleben verläuft in Deutschland überwiegend im Rahmen von Vereinen, die mit viel ehrenamtlichem Engagement Moscheen betreiben. Die Zahl der organisierten Mitglieder ist gemessen an der Gesamtzahl der Muslime gering. Daher leiden die Gemeinden aufgrund geringer Mitgliedsbeiträge an einer chronischen Finanznot.

Eine Folge davon ist, dass in der Gemeindearbeit vielerorts keine gut ausgebildeten Fachkräfte beschäftig werden können. Eine Ausnahme dürfte davon die Organisation DITIB darstellen, die aufgrund ihrer engen Verflechtungen zur türkischen Regierung derzeit in der Kritik steht. Hinzu kommt die hohe Heterogenität unter den Muslimen. Im öffentlichen Raum sprechen die muslimischen Gemeinden mit vielen Stimmen. Eine klare und repräsentative Vertretungsstruktur gibt es nicht.

Ansätze zum Aufbau der muslimischen Wohlfahrtspflege

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten sind seit circa fünf Jahren Aktivitäten erkennbar, die auf den sukzessiven Aufbau einer muslimischen Wohlfahrtspflege zielen. Ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erzielte vor allem die Deutsche Islamkonferenz (DIK), die in der jetzigen Legislaturperiode des Bundestages das Thema Wohlfahrt und gesellschaftliche Teilhabe auf die Agenda setzte.

Ein Ergebnis des Beratungsprozesses war 2015 die Initiierung eines Modellprojekts, in dem der Paritätische Wohlfahrtsverband in Kooperation mit muslimischen Verbänden mit Finanzmitteln des Bundesfamilienministeriums Strukturen einer islamischen Wohlfahrtspflege in zwei Städten (Köln und Wuppertal) aufbauen soll. Ziel des Projektes ist insbesondere die Professionalisierung der Jugendarbeit in den Gemeinden.

Bildungspolitik als Meilenstein

Ein weiterer wichtiger Meilenstein konnte durch die Bildungspolitik gesetzt werden. Im Kontext der Förderung der Zentren für Islamische Theologie erhält die Universität Osnabrück 2,8 Millionen Euro für den neuen Studiengang "Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft". Ab dem Wintersemester 2019/20 können Studierende im Rahmen eines -Studiengangs die Fächer "Soziale Arbeit" und "Islamische Theologie" kombinieren. Damit werden erstmalig in Europa Fachkräfte für eine muslimische Soziale Arbeit ausgebildet.

Die beiden aufgeführten Beispiele zeigen, dass in den klassischen Feldern der Wohlfahrtspflege bald auch Muslime mit Trägerstrukturen präsent sein werden. Der Aufbau von Trägern und Angebotsstrukturen stellt jedoch die muslimischen Akteure vor komplexe Herausforderungen, deren Bewältigung nach Lage der Dinge viel Zeit in Anspruch nehmen wird.

(Der Text ist zuerst erschienen in der Zeitschrift "diakonie unternehmen", Heft 1/2017)

Michael Kiefer ist Leiter der Post-doc-Gruppe Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.

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