sozial-Politik

Pflege

Interview

"Pflegebranche hat die Pflicht zum kollektiven Handeln"




Michaela Evans
epd-bild/IAT
Wenn die Pflegebranche in Zukunft hohe Qualität zu auskömmlichen Entgelten bieten will, muss sie neue Bündnisse schließen: trägerübergreifend und mit Gewerkschaften. Dies fordert Michaela Evans, Direktorin am Institut Arbeit und Technik an der Uni Bochum.

Der zunehmende Fachkräftemangel kann nach Ansicht der Gelsenkirchener Sozialwissenschaftlerin Michaela Evans zu "abgehängten Pflegeregionen" führen. Zwar sei nahezu unbestritten, dass die Pflegearbeit dringend aufgewertet werden müsse. Wenn sich die Akteure in dieser Branche aber weiterhin gegenseitig blockierten, werde es dazu aber nicht kommen. Deshalb braucht die Branche eine völlig neue und gemeinsame Strategie. Wege dorthin erläuterte Evans im Interview mit Markus Jantzer.

epd sozial: Schon in wenigen Jahren wird die Zahl der Pflegefachkräfte nicht mehr ausreichen, um die Pflegebedürftigen zu versorgen und zu betreuen. Steuert Deutschland ungebremst auf einen Pflegenotstand zu?

Michaela Evans: Aktuelle Prognosen zeigen, dass voraussichtlich im Jahr 2025 die Arbeitskräftenachfrage im Feld Gesundheit und Pflege das Arbeitskräfteangebot übersteigen wird. Dies wird aber nicht für alle Berufe und Regionen im gleichen Ausmaß zutreffen. In manchen Regionen haben Pflegeanbieter derzeit noch keine Probleme, qualifiziertes Personal zu finden. In manchen Regionen gibt es bereits Fachkräfteengpässe, in anderen Regionen kann man durchaus schon von einem Pflegenotstand sprechen. Wenn es nicht gelingt, Pflegearbeit durch bessere Arbeitsbedingungen und Einkommen attraktiver zu gestalten, kann es künftig tatsächlich abgehängte Pflegeregionen geben.

Der entscheidende Punkt ist, dass es heute hohe regionale Ungleichheiten hinsichtlich der Einkommenschancen für Pflegeberufe, insbesondere in der Altenhilfe, gibt. Zwar herrscht bei den meisten Akteuren große Einigkeit, dass zur Verhinderung eines Pflegenotstandes die Pflegearbeit dringend aufgewertet werden muss. Faktisch sind aber vielfältige Blockaden in diesem Prozess zu beobachten. Insbesondere mit Blick auf die Arbeits- und Einkommensbedingungen in der Altenhilfe sehe ich zeitnahen dringenden Handlungsbedarf. Für eine echte Aufwertungsstrategie braucht es auch einen trägerübergreifenden Dialog sowie eine "Konfliktpartnerschaft" in der Sozialwirtschaft.

epd: Ein Szenario, in dem häuslich Pflegebedürftige nicht die notwendige Hilfe finden, weil das Personal der örtlichen Sozialdienste bereits voll ausgebucht ist, erscheint unvorstellbar. Wie wird nach ihrer Ansicht ein derartiger Pflegenotstand verhindert werden?

Evans: Vorliegende Studien zeigen, dass es bereits erhebliche regionale Unterschiede in der Pflegeinfrastruktur in punkto Qualität, Erreichbarkeit und Fachkräfteangebot gibt. Entscheidend ist, dass es künftig gelingt, verschiedene Ressourcen zu stärken. Hierzu gehört mehr Unterstützung für pflegende Angehörige. Wir dürfen die familiären Strukturen aber auch nicht überfordern. Deswegen sind auch neue sozialraumorientierte Pflege- und Betreuungskonzepte, die die verschiedenen Ressourcen miteinander verknüpfen, wichtig. Ob und welche konkrete Rolle digitale Technik in diesem Kontext spielen kann, wird in den kommenden Jahren noch ein Thema sein.

Und schließlich muss es gelingen, Arbeit in der Pflege für junge Menschen zu einem aus subjektiver Sicht wertvollen Berufsfeld zu machen. Hierfür braucht es attraktive Arbeitsbedingungen, Einkommenschancen und Karriereperspektiven. Häufig wird an dieser Stelle argumentiert, dass wir das alles hätten, wenn nur der Organisationsgrad der Beschäftigten nicht so gering wäre. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit.

Denn es ist auch richtig, dass es in der Sozialwirtschaft an einem gemeinsamen, trägerübergreifenden Branchenverständnis fehlt. Im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbranchen haben einzelne Träger zwar ähnliche Strukturen aufgebaut, z.B. Arbeitgeber und Dienstgeberverbände gegründet. Diese sind im Gegensatz zu anderen Branchen aber nicht das Ergebnis einer starken Interessensorganisation auf Seiten der Arbeitnehmer, sondern folgen in ihrer Entstehungsgeschichte und Programmatik auch anderen Logiken. An anderen Wirtschaftsbranchen kann man studieren, dass kollektive arbeitspolitische Orientierungen wichtig für die Durchsetzung gemeinsamer Brancheninteressen sind.

epd: Um die Pflegequalität zu halten, müssten die Arbeitgeber in der Branche bessere Arbeitsbedingungen bieten. Sie sagten es bereits. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Der Stress der Beschäftigten nimmt zu, die Löhne sind unter Druck. Wie erklären Sie das Paradoxon?

Evans: Das liegt ohne Zweifel daran, dass wir in der Altenpflege eine besondere Regulierungslogik haben. Zwar dürfen mittlerweile Personalkosten in Höhe der Tarife bzw. Arbeitsvertragsrichtlinien der Kirchen von den Pflegekassen nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden. Dies gilt jedenfalls für den Geltungsbereich des SGB XI. Gleichwohl herrscht in der Altenpflege nach wie vor ein hoher Konkurrenz- und Preisdruck. Und im Vergleich der Bundesländer gibt es deutliche Unterschiede in der Höhe der Pflegesätze. Über die konkrete Verhandlungs- und Anerkennungspraxis der Lohnkosten durch die Pflegekassen wissen wir nicht viel.

Hinzu kommt das Zusammenspiel mit den Sozialhilfeträgern. Viele Kommunen stehen wirtschaftlich unter Druck. Da ist die Bereitschaft, mehr Geld für Pflegearbeit vorzuhalten, eher begrenzt. Der Wettbewerb in der Pflege ist ganz klar ein Wettbewerb um Preise, diese sind für die Verbraucher auch transparent. Und hier wird zunächst mal auf den Preis geachtet und nicht darauf, wie viel die Beschäftigten verdienen.

Es stimmt aber auch, dass Arbeitgeber und kirchliche Dienstgeber heute versuchen, Pflegefachkräfte mit attraktiven Entgelten oder anderen Gratifikationen für ihr Unternehmen zu gewinnen und zu binden. Angesichts der skizzierten Refinanzierungslogik ist zu beobachten, dass insbesondere für die geringer qualifizierten Kräfte die Entgelte nicht in gleichem Umfang steigen. Hier wurde in den vergangenen Jahren eher versucht, Arbeit durch niedrigschwellige Einstiegsqualifizierungen günstiger zu machen.

epd: Um dem Lohnkostenwettbewerb in der Pflege zu begegnen, müssten die unterschiedlichen Pflegeanbieter – kirchliche, weltliche, freigemeinnützige, private, große, kleine – Kartelle bilden. Sie selbst sagen, die Verbände dieser heterogenen Branche müssten kooperieren statt gegeneinander zu arbeiten. Das Problem aber ist: Die privaten Pflegeanbieter haben dazu gar keine Veranlassung, denn sie erhöhen ständig ihre Marktanteile, sind also die Gewinner des Wettbewerbs. Wieso sollte Ihr Appell also gehört werden?

Evans: Ich teile die These überhaupt nicht, dass die privaten Anbieter hierzu keinen Anlass haben. Da wird mir zu wenig differenziert. Wer sind denn die "Privaten"? Hier gibt es Soloselbstständige, Kleinstunternehmen ebenso wie große internationale Pflegekonzerne mit Private-Equity-Investoren im Rücken. Und weil die Welt der Privaten so unterschiedlich ist, gibt es auch unterschiedliche Interessen. Nicht umsonst haben wir mittlerweile zwei Arbeitgeberverbände in der Altenpflege.

Der Pflegemarkt befindet sich in einem nachhaltigen Transformationsprozess, der auch durch neue Kapital- und Investmentstrategien geprägt ist. Insbesondere die Kleinst- und kleinbetrieblichen Anbieter wollen sich auch künftig am Markt halten und nicht von den großen Pflegekonzernen übernommen werden. Da könnte es künftig neue Allianzen geben. Auch haben alle ein gemeinsames Interesse daran, die Refinanzierungsbedingungen sicherzustellen.

epd: Ein Bündnis aller Pflegeverbände und Branchengewerkschaften erscheint mir unrealistisch. Die Kluft zwischen den Kirchen und der Gewerkschaft ver.di ist so groß, dass sie noch nicht einmal in der Lage sind, konstruktive Tarifgespräche zu führen. Was könnte sie dazu bringen, ihre gegenseitige Abneigung zu überwinden?

Evans: Die verhärteten Fronten sind sicherlich ein Problem. Ich möchte dennoch mit Nachdruck dafür plädieren, dass es auch eine Verpflichtung zum kollektiven Handeln in diesem bedeutenden Feld gesellschaftlich notwendiger Dienstleistungen gibt! Letztlich geht es auch um ein gemeinsames Anliegen. Es nutzt weder den Gewerkschaften wenn sie die Möglichkeiten und Chancen zur Interessenvertretung nicht nutzen, noch nutzt es den Arbeit- und Dienstgebern, wenn sie sich gegen Mitwirkung und Mitbestimmung sperren. Es gibt gemeinsame Interessen, die man eben auch nur gemeinsam durchsetzen kann. Übrigens kann man auf regionaler Ebene durchaus neue Bündnisse auch zwischen Gewerkschaft und kirchlichen Trägern beobachten.

Dort wo der Druck am höchsten ist, gibt es durchaus Bewegung. Hier wird es eher darum gehen, keine kurzfristigen Beutegemeinschaften zu bilden, sondern echte Konfliktpartnerschaften zu etablieren. Erste Schritte in diese Richtung finden sich etwa in Bremen oder auch in Baden-Württemberg. Und schließlich gibt es drängende gemeinsame Herausforderungen: Hierzu würde ich eine digitale Strategie ebenso einordnen wie die Frage, wie man künftig mit internationalen Investoren- und Kapitalinteressen in der Sozialwirtschaft umgeht. Die EU hat kürzlich ein Papier veröffentlicht, in dem steht, dass eine Reform europäischer Gesundheitssysteme ohne internationale Investoren nicht möglich ist. Für den Umgang mit diesen Investoren braucht es Spielregeln, diese können nur im Zusammenspiel der Akteure entwickelt werden.

epd: Bei aller Kontroverse sind tatsächlich in Deutschland einige wenige trägerübergreifende und ideologiefreie Bündnisse in der Wohlfahrtsbranche zustande gekommen. So haben sich in Bremen und Niedersachsen kirchliche und weltliche Verbände gemeinsam entschlossen, in der Sozialbranche einen für alle verbindlichen Flächentarif durchsetzen zu wollen ...

Evans: Eine Besonderheit dieser Bündnisse ist sicherlich, dass es sich um "Bündnisse des letzten Augenblicks" handelt. In diesen Ländern sind die Pflegesätze niedrig, der Preisdruck hoch, und in den letzten Jahren war der tarifpolitische Häuserkampf an der Tagesordnung. Hier ging es vor allem darum, den ruinösen Lohnwettbewerb zu stoppen und über den Weg der Kooperation die Weichen für einen echten Qualitätswettbewerb zu stellen. Die Bildung von trägerübergreifenden Verantwortungs- und Qualitätsgemeinschaften halte ich für einen bedeutenden Schritt, den man auch in Richtung der Bürgerinnen und Bürger kommunizieren kann.

epd: Gibt es hier erkennbare Erfolge?

Evans: Das Bündnis in Bremen hat sich etabliert und kürzlich einen Tarifvertrag für Beschäftigte in der Pflegebranche geschlossen. An diesem Beispiel kann man übrigens sehen, dass es nicht immer nur um Tarifabschlüsse gehen muss. Auch gemeinsame regionale Strategien zur Fachkräftesicherung stehen auf der Tagesordnung. Allerdings muss man auch die Markt- und Machtverhältnisse insgesamt im Blick behalten. In den Tarifausschüssen, in denen beispielsweise über die Allgemeinverbindlichkeit entschieden wird, sitzen häufig Vertreter anderer Branchenverbände. Diese finden zwar eine verlässliche Pflegeinfrastruktur durchaus wichtig, aber diese sollte nach ihrer Auffassung möglichst nicht mit höheren Kosten verbunden sein.

epd: Was muss geändert werden, damit Anträge auf einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag politisch durchsetzbar sind?

Evans: Ob tatsächlich ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag die Lösung ist, bin ich nicht sicher. Die Kirchen befinden sich im Dritten Weg, das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu geäußert. Aber ich halte es für zielführend, dass sich die Akteure der verschiedenen Arbeitsrechtssysteme auf gemeinsame Mindeststandards verständigen. Dies sollte aber auf Augenhöhe der Beteiligten erfolgen. Eine Pflegekammer alleine wird die gewünschte Aufwertung nicht bringen, hier brauchen wir jenseits runder Tischer und Aktionsbündnisse tarifpolitisch verhandlungs- und durchsetzungsfähige Branchenakteure.

epd: Sie empfehlen der Pflegebranche in Deutschland, von Österreich zu lernen. Was ist in dem Nachbarland besser?

Evans: Zumindest gibt es hier auf nationaler Ebene eine gemeinsame Interessenvertretung für die Sozialwirtschaft und einen Branchendialog. Zentrale Aufgaben sind Begutachtungen bei Gesetzen und Verordnungen, die Stärkung des Images und die Förderung eines kollektiven Branchenbewusstseins in der Sozialwirtschaft sowie die Stärkung der Berufsgruppen. Insbesondere das Instrument des Branchendialogs gibt es (gefördert) zwar für andere Branchen in Deutschland, bislang aber eben nicht für die Sozialwirtschaft.

epd: Können die Ergebnisse aus Österreich und der Weg dorthin auf Deutschland übertragen werden?

Evans: Angesichts der drängenden Herausforderungen spricht viel dafür, dass die Politik mit den Verbänden einen solchen Dialog suchen sollte. Es muss bei einem solchen Branchendialog ja nicht gleich um harte Tarifpolitik gehen. Andere Themen wie der Umgang mit regionaler Ungleichheit in der Pflegeinfrastruktur, Digitalisierung oder die Zukunft sozialraumorientierter Innovationskonzepte können hier einen sinnvollen Rahmen bieten. Im Übrigen wird dies für die Industrie momentan gefordert. Und der Wandel unserer wirtschaftlichen Basis in Deutschland ist ohne eine starke Sozialwirtschaft nicht denkbar.


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