Ausgabe 14/2017 - 07.04.2017
Bremen (epd). Wo könnte das Teil nur sein? Grit Schnibbe wühlt in einem Koffer und sucht nach dem goldenen Dingsbums. Was das genau ist, weiß sie nicht. Sie schaut in Holzschachteln, Blechkisten und Verpackungen - und wird einfach nicht fündig. Die Leute um sie herum reagieren ungeduldig. "Das wird aber heute noch was..." tönt ein Kommentar aus dem Hintergrund. Das macht Schnibbe, 48 Jahre alt, wütend. "Oh mein Gott, in welche Schachtel hatte ich denn schon reingeguckt?", fragt sie sich mit einem Anflug von Verzweiflung. Abgenervt wirft sie eine kleine Kiste in den Koffer. Auch da: Keine Spur von dem Dingsbums.
Die Schachteln dürfen den Koffer nicht verlassen, das kommt erschwerend hinzu. "Sie gibt sich nicht so richtig Mühe", stichelt Jürgen Weemeyer, der zusammen mit seiner Kollegin Hedwig Wiemker zur Suche im Koffer aufgerufen hat. Und auch Wiemker legt nach: "Sie ist heute einfach nicht gut drauf." Grit Schnibbe reicht es. "Nee, da habe ich jetzt keine Lust mehr. Ich bin total gefrustet", empört sie sich.
Der Koffer ist Teil eines Modellprojektes, in dem es darum geht, den Teilnehmern spielerisch die Welt demenzkranker Menschen näher zu bringen. Der Gerontologe Weemeyer und die Ergotherapeutin Wiemker wollen vermitteln, wie es Betroffenen in typischen Situationen geht. Beispielsweise, wenn sie etwas suchen.
"Da taucht dann oft die Frage auf: Was suchst Du eigentlich? Das macht wütend", sagt Weemeyer und ergänzt: "Die Suchende kann nicht richtig hantieren, sie kommt in Not und verliert die Übersicht. Das ist Alltag für Menschen mit Demenz." So wie in diesem Moment auch für Grit Schnibbe. "Das hat keinen Spaß gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass ich nichts richtig mache und wollte am Ende unbedingt raus aus der Situation."
An diesem Nachmittag sitzen mehr als zehn Gäste am "DemenTisch", einer öffentlich geförderten Initiative, bei der die Verwirrung System hat. Auf Zeit nehmen sie die Perspektive Demenzkranker ein, wollen Wut, Frust und Trauer nachspüren - möglichst so, wie sie auch real Betroffene erleben.
Zum Beispiel bei der Teilnehmerin, die bei der Kaffeerunde ohne ihr Wissen als einzige einen versalzenen Bienenstich serviert bekommt. Ihren Protest kann logischerweise niemand nachvollziehen, denn auf allen anderen Kuchentellern liegen süße Stücke. "Bei dementen Menschen verändern sich die Geschmacksknospen. Wenn sie dann protestieren, stehen sie alleine da und fühlen sich ausgeschlossen", erläutert Weemeyer.
Auch bei der Unterschrift und beim Ausmalen eines Mandalas mit der linken Hand erfahren die Gäste am eigenen Leib, wie Demenz wirkt und dass die Krankheit viel mit dem Verlust von Alltagskompetenzen zu tun hat. Auch die Motorik lässt nach - die Striche kommen bestenfalls krakelig auf das Papier. "Handlungen, die immer liefen, gehen nicht mehr", verdeutlicht Wiemker. Bemerkungen wie "Das hast Du doch schon 1.000 Mal gemacht, Du weiß doch wie es geht" seien dann unangebracht.
Völlig falsch ist nach Auffassung der Expertin auch das in vielen Altenheimen beliebte Gedächtnistraining, das nicht hilft, sondern zusätzlich frustriert. Weemeyer erklärt, warum das so ist: "Da wird doch ständig vorgeführt, was alles nicht funktioniert. Einige werden dann wütend, andere erdulden das." Besser sei "Erinnerungspflege", wie es Wiemker nennt: "Bekanntes anbieten, beispielsweise Musik. Nichts Kompliziertes." Alles, was noch funktioniere, könne geübt werde. "Aber es bringt nichts, an Dingen festzuhalten, die nicht mehr laufen."
Weemeyer und Wiemker, die bei einem ambulanten Pflegedienst und in einem Altenpflegeheim arbeiten, haben den "DemenTisch" auch gestartet, weil sie zur Hilfe ermutigen wollen. Oft werde aus Unwissenheit oder Sorge, etwas falsch zu machen, gar nicht reagiert. Zwar gebe es keine allgemeingültigen Rezepte. Aber für die Suche nach dem Dingsbums haben sie doch einen Tipp. Wiemker: "Mithelfen. Und wenn die Sache droht, in einer Sackgasse zu enden, vielleicht anbieten: Wollen wir eine Pause machen und einen Kaffee trinken? Dann ist die frustige Suche möglicherweise bald vergessen."