sozial-Branche

Flüchtlinge

Interview

"Die Situation ist eine große Enttäuschung"




Joachim Lenz
epd-bild/Ortrud Wohlwend
Der Direktor der Berliner Stadtmission, Joachim Lenz, kritisiert die schleppende Unterbringung von Flüchtlingen in der Hauptstadt. "Da hakt ganz viel", sagte er im epd-Interview.

Die Stadtmission als Betreiber zahlreicher Notunterkünfte sieht keine Verbesserung durch die Zuständigkeitsverlagerung vom umstrittenen Lageso (Landesamt für Gesundheit und Soziales) zum neuen Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. Mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) sprach Lenz über Familien in Turnhallen, leerstehende Neubauten und seine Erwartungen an den neuen rot-rot-grünen Senat. Das Gespräch führte Thomas Schiller.

epd sozial: Zahlreiche Flüchtlinge, die 2015 nach Berlin gekommen sind, erleben ihre zweite Weihnachtszeit in Notunterkünften. War das absehbar?

Joachim Lenz: Wir hatten das befürchtet. Wir haben in Berlin die Situation, dass in einer Stadt, in der Wohnungsnot herrscht, sehr viele Menschen auf engem Raum untergebracht werden mussten. Schon am Anfang der Zeit, als noch sehr viele Menschen untergebracht werden mussten, klappte bereits vieles nicht.

epd: Was heißt das konkret?

Lenz: Wir haben zum Beispiel seit zwei Jahren eine Notunterkunft in Betrieb, die dafür gedacht ist, dass Menschen dort drei oder vier Tage unterkommen, um dann ordentlich untergebracht zu werden. In dieser Unterkunft haben wir im ersten Jahr über 20.000 verschiedene Menschen beherbergt, jeweils nur kurze Zeit – aber jetzt sind dort Menschen, die schon ein Jahr dort leben. Das ist richtig schlecht. Und die, die in Turnhallen leben, haben es noch viel schlechter.

epd: Für Flüchtlinge gebaute Unterkünfte stehen leer, wo sehen Sie das Problem?

Lenz: Die Ausschreibungen, die das zuständige Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten auf den Weg gebracht hat, sind juristisch angefochten worden. Das Ergebnis ist: Wir haben Einrichtungen, die betrieben werden könnten. Wir haben Betreiber, die bereitstehen. Und wir haben Menschen, die unter Bedingungen hausen müssen, die man niemandem wünschen kann. Familien leben seit einem Jahr in Turnhallen, die Kinder gehen von dort aus zur Schule. Die Situation ist eine große Enttäuschung.

epd: Die Bundeskanzlerin hat vor einem Jahr gefordert, dass die deutsche Bürokratie angesichts der immensen Anforderungen der Flüchtlingsunterbringung auch mal ein Auge zudrücken müsse. Ist das vor Ort zu spüren?

Lenz: Das, was die Kanzlerin sich gewünscht hat, hat nicht funktioniert. Da hakt ganz viel. Zum Beispiel stehen seit Anfang des Jahres Duschcontainer in einer unserer Notunterkünfte, die wir hoffentlich bis Weihnachten anschließen dürfen. Behörden stehen sich manchmal gegenseitig im Weg.

epd: Woran liegt das?

Lenz: Das ist nicht böser Wille, sondern hat vor allem damit zu tun, dass Überforderungen vorliegen. Und es gibt wenig Mut bei Beamten, einfach mal etwas Notwendiges anzuordnen. Angesichts der hohen Auflagen in Deutschland wollen wohl viele nichts auf die eigene Kappe nehmen.

epd: In Berlin war das Lageso ein Synonym für Behördenchaos, es ist abgelöst worden durch ein neues Landesamt. Hat sich dadurch etwas verändert?

Lenz: Die Menschen, die dort arbeiten, sind dieselben, die vorher im Lageso gearbeitet haben. Das sind Fachleute, aber viel zu wenige. Es ist weiterhin sehr schwierig, die Behörde auch nur zu einer Aussage zu bewegen. Die Zahlungsmoral ist schlecht. Die Betreiber gehen in die Knie, weil sie fest vereinbarte Abschlagszahlungen nicht bekommen. Wir haben im Grunde noch keine Verbesserung festgestellt.

epd: Es kommen inzwischen deutlich weniger Flüchtlinge nach Berlin als noch vor einem Jahr. Ist zu erwarten, dass die Kapazitäten der Behörden irgendwann den Anforderungen entsprechen?

Lenz: Ich kann das nur hoffen. Es gibt ja nicht nur Mutlosigkeit und Chaos. Ich erlebe im neuen Landesamt auch viele motivierte Leute. Es gibt Ressourcen. Es gibt Orte, die identifiziert worden sind, um dort Gemeinschaftsunterkünfte zu errichten. Und es gibt eine neue Landesregierung, die sich auf die Fahne geschrieben hat, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Der Wille ist erkennbar.

epd: Wie gestaltet die Berliner Stadtmission die Adventszeit in den Flüchtlingsunterkünften mit christlichen Bräuchen?

Lenz: Wir nutzen die Zeit, um unsere Traditionen zu erläutern, wie den Weihnachtsbaum oder die Geschenke, und erzählen die Geschichten dazu. Wir laden auch Nichtchristen ein, anlässlich unserer Feste mitzufeiern. Als Christenmenschen glauben wir ja, dass die Welt, wie sie ist, nicht so bleiben muss, sondern dass Gott noch etwas Gutes mit ihr vorhat. Wenn wir diese hoffnungsvolle Perspektive an Geflüchtete weitergeben könnten, wäre das gut.

epd: Funktioniert das?

Lenz: Wir haben keine Reibungen erlebt. Wir sagen sehr offen, wenn eine Veranstaltung religiös und christlich geprägt ist. Da kommen viele. Viele Muslime haben einen großen Respekt davor, wenn Menschen mit Religion und einer von Werten geprägten Einstellung ihr Leben gestalten wollen.

epd: Wird das von Muslimen toleriert und akzeptiert?

Lenz: Uns ist wichtig, dass keiner das Gefühl hat, er wird vereinnahmt. Und wir respektieren die eigenen Traditionen, die mitgebracht werden. Wir haben in unseren Einrichtungen natürlich Räumlichkeiten, wo Muslime in Ruhe beten können. Das ist ein Miteinander, das gut funktioniert.

epd: Adventszeit bedeutet auch: Es wird kälter draußen. Die Stadtmission ist traditionell Träger von Obdachlosenarbeit und Kältehilfe. Geht die Flüchtlingsarbeit zulasten von Obdachlosen?

Lenz: Im letzten Winter war sehr klar zu sehen, dass nichts zulasten von anderen Gruppen geht. Wir mussten im Bereich der Obdachlosenhilfe keine Abstriche machen. Und der Senat hat es geschafft, die Zahl der Unterkunftsplätze zu erhöhen. In diesem Winter ist der Bedarf aber noch höher.

epd: Müssen Obdachlose lernen zu teilen, wenn Geflüchtete mit ihnen bei Suppenküchen und Kleiderkammern gemeinsam anstehen?

Lenz: Bei Kleiderkammern kann das sein. Aber dank der großen Spendenbereitschaft der Bevölkerung haben wir genug Kleidung. Und mit Essen werden die Geflüchteten in der Regel in ihren Unterkünften versorgt.


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