sozial-Branche

Frühgeborene

Eine Handvoll Leben




Frühchen brauchen intensive medizinische Hilfe.
Klinikum der Universität München / Andreas Steeger
Für Kinder, die zu früh auf die Welt kommen, steht alles auf dem Spiel. Auf der Frühgeborenenstation München-Großhadern kämpfen Mediziner um sie.

In dem Glaskasten liegt eine Handvoll Leben, verkabelt und von Monitoren überwacht. Rund 600 Gramm waren es bei der Geburt, etwas mehr als ein Pfund. Viel zu früh ist das winzige, zerbrechliche Mädchen auf die Welt gekommen. Noch wird es künstlich beatmet. In der Frühgeborenenstation in München setzen der Mediziner Andreas Flemmer und sein Team alles daran, das Leben des Kindes zu retten.

Eine Überlebenschance von 84,1 Prozent

Die Chancen stehen gut. Das Perinatalzentrum Großhadern, wie die Frühchenstation in der Fachsprache heißt, ist eines der deutschlandweit führenden Zentren für zu früh geborene Kinder. Bei den Kindern, die bei ihrer Geburt mindestens 500 Gramm wiegen, liege die Überlebensrate heute bei 84,1 Prozent, sagt Flemmer. Ab 750 Gramm überlebten über 90 Prozent der Kinder. Zur Zeit versorgen Flemmer und seine Mitarbeiter elf Frühchen. Neun waren bei ihrer Geburt noch nicht einmal ein Kilo schwer.

Ohne medizinische Hilfe wären die Kinder nicht lebensfähig. Der Darm arbeitet noch nicht, die Nieren filtern noch nicht das Blut, können keine Giftstoffe ausscheiden. "All diese Funktionen versuchen wir durch Medikamente zu stützen", sagt der Mediziner, um dann einzuschränken: "Ein Zuviel ist aber auch nicht gut." Etwa, wenn es um die Sauerstoffversorgung geht. Und er nennt einen berühmten Frühgeborenen: Der Sänger Stevie Wonder ist blind, weil er nach der Geburt zu hohen Sauerstoffkonzentrationen ausgesetzt war. Dadurch löste sich die Netzhaut ab. Die Medizin habe gelernt, dass die Frühgeborenen selbst atmen können, sagt Flemmer.

Der Arzt flüstert, während er auf der Intensivstation neben einem Brutkasten stehen bleibt, wie der Inkubator umgangssprachlich genannt werden. Nur kurz hebt er die Decke über dem Gerät. Die Frühchen sind lichtempfindlich. Sie brauchen viel Ruhe. Und Wärme. In einem Durchgangszimmer stehen zusammengeklappte Liegen für die Eltern. Ein Vater hat sich eine Liege geholt und neben das Bettchen seines Kindes gestellt. Jetzt liegt das Kind, in eine Decke eingewickelt, auf seiner Brust. "Der Körperkontakt ist wichtig", sagt Flemmer.

Viel Personal und viel Erfahrung

Im Perinatalzentrum Großhadern arbeiten 50 Pflegekräfte in drei Schichten sowie insgesamt 14 Ärzte. Die Versorgung dieser Kinder braucht viel Personal und Erfahrung. Erfahrung, die nach Einschätzung von Flemmer nicht jedes ausgewiesene Perinatalzentrum hat. "Um als Perinatalzentrum Level 1 anerkannt zu werden, braucht es 14 Kinder unter 1.000 Gramm im Jahr", kritisiert er die gesetzlichen Vorgaben. Aber nicht jedes dieser Zentren biete die optimale Versorgung, merkt er an.

Eine zu frühe Geburt ist in der Regel voraussehbar. Und trotzdem: Für die Eltern sei die frühe Geburt oft ein Schock: "Es braucht Zeit zu begreifen", sagt die katholische Klinikseelsorgerin Claudia Zierer. Im Team der Klinikseelsorger im Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München ist sie für den Kreißsaal zuständig und begleitet die Mütter und Väter der Kinder. Oftmals mehrere Monate lang. Die Eltern machten mehrere Phasen durch, sagt sie: Depression, die Freude über das Leben, aber auch die Erschöpfung im Klinikalltag, Schuldgefühle und Scham. "Wer als Eltern einen solchen Lebensanfang seiner Kinder miterlebt, bekommt einen anderen Blick auf das Leben", sagt die Seelsorgerin. "Das verändert Leben."

Nicht immer freilich siegt das Leben. An diesem Nachmittag treffen sich Klinikseelsorgerin Zierer und Mediziner Flemmer noch einmal im Kreißsaal. Zu einer Trauerfeier. "Wir sind noch traumatisiert", sagt Flemmer. Am Morgen ist ein Junge kurz nach der Geburt gestorben. Zusammen mit den Eltern werden sie Abschied von dem Kind nehmen. Claudia Zierer zündet dann eine Kerze an, segnet das Kind, das nur wenige Augenblicke auf der Welt war. "Wir erleben Karfreitag und Ostersonntag", sagt die Klinikseelsorgerin.

Barbara Schneider

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