Insgesamt 70.000 bis 100.000 Selbsthilfegruppen soll es bundesweit geben, deren Mitglieder ihre Problembewältigung in die eigenen Hände nehmen. Doch im Lockdown sind reale Treffen meist nicht mehr möglich. Viele Mitglieder vermissen den Halt, den ihnen die Gruppe gibt. Ein Situationsbericht aus München.

"Für mich ist die Selbsthilfegruppe extrem wichtig", sagt Peter Lehan. Der 57-Jährige leidet wie die anderen zwölf Mitglieder an einer bipolaren psychischen Störung. Dabei wechselt das Gefühlsleben von unbegründeter Hochstimmung hin zu tiefen Depressionen. 15 Monate hat er in innerhalb von drei Jahre in Kliniken verbracht, bekam aber seiner Meinung nach "keine wirkliche Hilfe".

Die fand er erst in der Selbsthilfegruppe, die ihm nach eigener Aussage mittlerweile fast zur Familie geworden ist. "Wir sprechen auf Augenhöhe miteinander", sagt Lehan. "Die Ärzte wissen viel, haben die Krankheit aber nicht selbst erlebt." Einmal die Woche traf man sich vor Corona im Münchner Selbsthilfezentrum im Westend.

Regelung von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich

Im Zentrum berichtet Geschäftsführer Klaus Grothe-Bortlik über die bayerische Corona-Regelung für Selbsthilfegruppen: "Suchtgruppen dürfen sich weiter treffen, sonstige Gruppen unter einer fachlichen Leitung." Wobei das "fachliche" auch durch langjährige Erfahrung in der Leitung einer Gruppe gewährleistet sei. Prinzipiell stünde also einem Zusammenkommen mit Abstand und Mundschutz, der nur zum Sprechen abgenommen werden dürfe, nichts entgegen. Aber, so erklärt Grothe-Bortlik: "Viele Gruppen treffen sich nicht, weil sie sich als Risikogruppe sehen."

Die Regelungen sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Einen schnellen Überblick gibt die "Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen" (Nakos) in Berlin auf ihrer Website.

An die 250 Selbsthilfegruppen kamen bisher unter dem Dach des Selbsthilfezentrums München zusammen, was jetzt wegen fehlender großer Räumlichkeiten, in denen Abstände eingehalten werden können, schwierig ist. Viele Gruppen haben deshalb das digitale Angebot des Zentrums angenommen, sich über Videokonferenzen im Internet zusammenzuschalten. Auch die Bi-Polar-Gruppe von Peter Lehan trifft sich jetzt virtuell: "Mir wäre eine Präsenzgruppe lieber, aber es ist besser als gar keine Gruppe."

Videochat mit 14 Leuten

Im Münchner Stadtteil Untergiesing öffnet Hannelore Penzkofer ihr Laptop und loggt sich in eine Plattform ein. "Ein ganz, ganz positive Erfahrung ist das", sagt sie und nimmt Kontakt zu den Mitgliedern ihrer Gruppe auf. Neulich waren 14 Leute per Video und vier über das Telefon mit dabei.

Die 72-jährige Münchnerin ist Sprecherin des Bundesverbands Polio und leitet seit sieben Jahren die Münchner Gruppe mit ihren 104 Mitgliedern. Diese eint, dass sie an Kinderlähmung erkrankten und heute mit körperlichen Einschränkungen leben. Man traf sich einmal im Monat in einem Raum des Bogenhausener Krankenhauses. Seit Corona aber waren diese Treffs nicht mehr möglich.

Hedwig Haag hat ein Nottelefon eingerichtet, um mit den Mitgliedern sprechen zu können, und es gibt auch eine Telefon-Online-Gruppe, also eine Art Konferenzschaltung. Die 62-Jährige ist Vorsitzende der Deutschen Dystonie Gesellschaft e.V. und Leiterin der Münchner Selbsthilfegruppe. Dystonie ist eine Bewegungsstörung, die unterschiedliche Formen annehmen kann. Die Krankheit ist unheilbar, aber die Folgen lassen sich lindern. Bundesweit gibt es 40 Selbsthilfegruppen mit 1.600 Mitgliedern.

Vor Corona trafen sich die Mitglieder der Münchner Gruppe monatlich und machten auch gemeinsam Ausflüge. Sich gegenseitig aufzubauen und abzulenken, das stehe wie bei vielen anderen Gruppen im Vordergrund, was jetzt jedoch schwierig sei. Viele Mitglieder bleiben lieber zu Hause, sie wollen kein Risiko eingehen. "Die Situation ist schlimm", sagt Haag: "Viele sind sehr einsam." Die Telefon-Online-Gruppe sei gut, aber, aber "das persönliche Treffen ist doch das A und O".