Als die Wahl gelaufen war, gab Margot Käßmann einen Einblick in ihr Gefühlsleben. Sie zitierte am Vormittag des 28. Oktober 2009 vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Ulm ihre Großmutter. "Wem der liebe Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch die Kraft es auszufüllen", habe die Oma ihr nach der Ordination zur Pfarrerin mit auf den Weg gegeben. "Auf diese Kraft hoffe ich", sagte Käßmann wenige Minuten nach ihrer Wahl zur EKD-Ratsvorsitzenden - als erste Frau in dieses Amt.

Während es rückblickend nahezu vorgezeichnet schien, dass die damals 51 Jahre alte prominente Theologin zur obersten Repräsentantin der deutschen Protestanten aufsteigt, war das für Käßmann vor zehn Jahren keineswegs klar: "Dass die Synode sich für mich entscheidet, als geschiedene Frau, war alles andere als vorhersehbar."

Zwei Wochen vor der EKD-Tagung habe sie noch einmal mit engen Freunden beraten. "Die Anforderungen vor allem in Bezug auf die mediale Präsenz waren enorm gestiegen", erinnert sich Käßmann im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Wolfgang Huber hatte Maßstäbe gesetzt: Das waren große Schuhe, in die ich treten würde."

Weibliche Doppelspitze

Von der intensiven Selbstbefragung ist nach Beginn der Synodenberatungen Ende Oktober in Ulm wenig zu erahnen. Bei ihrer souveränen Vorstellungsrede am Sonntagabend zeigt die damalige hannoversche Landesbischöfin einmal mehr ihre Gabe, zugleich als versierte Theologin, fromme Christin und Frau mitten im Leben aufzutreten.

Bei der Wahl in den Rat am folgenden Dienstag bekommt sie das mit Abstand beste Ergebnis der 13 Gewählten: 103 von 145 abgegebenen Stimmen im ersten Wahlgang. "Da wusste ich: Die evangelische Kirche will mich als Ratsvorsitzende", erinnert sich Käßmann. In den nächsten Tag mit der Wahl zur Vorsitzenden sei sie entsprechend gelassen gegangen, 132 Ja-Stimmen von 142 abgegebenen Voten entfallen auf Käßmann.

Damit hatte sich die EKD für eine weibliche Doppelspitze entschieden, nachdem die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt im Mai als Präses an die Spitze der Synode gewählt worden war. Nach dem Votum für Käßmann sagte Göring-Eckardt, die Doppelspitze zweier Frauen sei "wunderbar normal evangelisch".

Zehn Jahre lang steht Käßmann bei der Ratswahl 2009 bereits an der Spitze der hannoverschen Landeskirche, ist neben dem Ratsvorsitzenden Huber das mit Abstand prominenteste Gesicht der evangelischen Kirche. Im Gegensatz zum Amtsvorgänger wirkt die zierliche Frau mit den kurzen schwarzen Haaren nahbarer, auch weil die Mutter von vier Töchtern sehr offen mit persönlichen Schicksalsschlägen wie dem Scheitern ihrer Ehe und ihrer Brustkrebserkrankung umgeht.

Schnell zeigt sich in den nächsten Wochen, wie das Ehrenamt als Ratsvorsitzende die hannoversche Bischöfin parallel zur Leitung der größten Landeskirche fordert. Käßmanns beherztes Eintreten gegen eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik sorgt für Schlagzeilen. Nachdem sie in einer Predigt den Satz "Nichts ist gut in Afghanistan" ausgesprochen hat, setzt eine intensive Debatte über den Bundeswehreinsatz ein. Schließlich kommt es zu einem Treffen Käßmanns mit Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) und einer Einladung des Verteidigungsministers, sich doch selbst in Afghanistan ein Bild zu machen.

Auch im Ruhestand öffentlich präsent

Zu der Reise kommt es nicht mehr. Nach nicht einmal vier Monaten im Amt tritt Käßmann am 24. Februar 2010 von allen kirchlichen Leitungsämtern zurück und zieht damit die Konsequenz aus einer Autofahrt unter Alkoholeinfluss. 2012 wird Käßmann Botschafterin des EKD-Rates für das 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017. Im vergangenen Jahr geht sie mit 60 Jahren in den Ruhestand. Auch wenn heute die Familie mit inzwischen sechs Enkelkindern mehr Raum im Leben der Ruheständlerin einnimmt, bleibt die prominente Protestantin als Autorin, Gastpredigerin und Vortragsreisende öffentlich präsent.

Dass ihr als erste Frau an der EKD-Spitze mit Nikolaus Schneider und Heinrich Bedford-Strohm wiederum zwei Männer gefolgt sind, betrachtet Käßmann gelassen. Seit ihrer Wahl vor zehn Jahren sei klar, dass Frauen in der evangelischen Kirche alle Leitungsämter offenstehen. Dass es bis heute deutlich weniger Bischöfinnen als Bischöfe gibt, könne auch daran liegen, dass Frauen nicht so stark nach Ämtern streben. "Sie fragen sich häufiger, was das Leben eigentlich ausmacht, und kommen dabei oft zu anderen Antworten als Männer."