"Wir sind der Widerstand. Und wir sind gekommen, um zuzuschlagen - im übertragenen Sinne natürlich, mit Hilfe der Demokratie." Rami Mejri nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er die tunesische Politik und vor allem die Politiker kritisiert. Am dringendsten müssten Korruption und Vetternwirtschaft in Tunesien bekämpft werden, sagt der 27-Jährige. Der Student würde das auch gern selbst tun, und zwar im neuen Parlament, das am 6. Oktober gewählt wurde.

Eigentlich studiert Mejri in Saarbrücken Cybersicherheit. Doch als er eine Woche lang in den Semesterferien in seiner Heimat zu Besuch war, entschied er mit einigen Freunden spontan, bei der Parlamentswahl zu kandidieren, und legte sein Studium kurzfristig auf Eis. "Wled lhouma", die "Jungs des Viertels", nennen sie sich. Auf Wahlplakaten präsentieren sich die vier Frauen und vier Männer zwischen Mitte und Ende 20 mit Gesichtsmasken und roten Kapuzenpullis, in Anspielung auf eine spanische Bankräuber-Erfolgsserie. Wir sind welche von euch und gegen das Establishment, lautet die implizite Botschaft.

Stichwahl zur Präsidentschaft am 13. Oktober

Die jungen Leute von "Wled lhouma" bilden eine von 56 Listen, die in ihrem Wahlkreis antraten. Im Moment sitzen sie noch in einem einfachen Café in einem Arbeiterviertel der Hauptstadt Tunis, das ihnen als inoffizielle Wahlkampfzentrale dient. Ohne Partei im Hintergrund und ohne nennenswerte Finanzierung gehen ihre Chancen, ins Parlament einzuziehen, eigentlich gegen Null. Genauso wie die der vielen anderen unabhängigen, oft jungen Listen, die im ganzen Land zu Hunderten gegründet wurden.

Doch dieser Wahlkampf in Tunesien ist anders, und die Unabhängigen spüren ihre Chance. Bereits bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr hatten unabhängige Listen in vielen Orten gut abgeschnitten. Und auch im ersten Durchgang der Präsidentenwahl am 15. September landeten die Kandidaten Nabil Karoui und Kais Saied auf den Spitzenplätzen, die beide keine etablierte Partei im Rücken haben. Sie treten am 13. Oktober in der Stichwahl gegeneinander an.

Acht Jahre nach dem politischen Umbruch mit dem Ende der Ben-Ali-Diktatur sitzt der Frust bei vielen der elf Millionen Tunesier tief. Während in der demokratischen Entwicklung durchaus Fortschritte zu verzeichnen sind, blieb die Wirtschaft vielfach auf der Strecke. Korruption, Vetternwirtschaft und eine verkrustete Bürokratie lähmen das Land zusätzlich. Die Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent, und bei jungen Leuten unter 24 ist sie mehr als doppelt so hoch. Tunesien ist ein junges Land, etwa die Hälfte der Bevölkerung ist unter 30 Jahren.

Zwar verfolgen viele junge Leute die politische Entwicklung genau. Doch das Vertrauen in die Politiker haben sie oft verloren. "Die sieht man nur im Wahlkampf und danach nie wieder," schimpft der 32-jährige Kioskbesitzer Majdi, der seinen Nachnamen nicht genannt haben möchte. Er hat sich noch nicht entschieden, ob er wählen geht.

"Haben die Retter satt"

Majdi überlegt, seine Stimme "Aich Tounsi" (Tunesisch leben) zu geben, auch einem Newcomer in der Politik. Aus einer nichtstaatlichen Initiative entstanden und finanziert mit den Millionen der Mäzenin Olfa Terras Rambourg, tritt diese populistische Bewegung landesweit mit dem Slogan an: "Habt keine Angst, wir sind keine Partei."

"Aich Tounsi" hat eigenen Angaben zufolge telefonisch mehrere Hunderttausend Tunesier nach ihren Prioritäten befragt, um auf dieser Grundlage ein Wahlprogramm zu schreiben. Durch ihre landesweiten Strukturen hofft die Liste darauf, unter den stärksten Kräften im neuen Parlament zu sein.

Die Initiatoren verkünden frischen Wind: "Wir haben die Retter satt, die Väter und Großväter, die Leute, die für uns entscheiden." Wenn "Aich Tounsi" gewinne, würden alle Tunesier gemeinsam Entscheidungen treffen, verspricht der Spitzenkandidat in Tunis, Selim Ben Hassen. Doch die Arbeit im 217 Abgeordnete zählenden Parlament würde kompliziert werden, räumt der Politiker ein, der keiner sein will.

Zwar sind offizielle Umfragen im Wahlkampf verboten. Doch deutete alles darauf hin, dass keine größere politische Gruppierung eine Mehrheit erhalten wird. Weder die religiöse Ennadha-Partei, noch die säkulare Nidaa Tounes, die die Politik seit dem "Arabischen Frühling" wesentlich bestimmt haben. Selbst eine Regierungskoalition aus zwei oder drei Parteien zu bilden, könnte in einem zersplitterten Parlament schwierig werden.