St. Goarshausen (epd). Als die "Loreley IV" auf die Sekunde genau um halb elf morgens ablegt, schmettert eine Blechblasgruppe den Gospel "Let my people go" ins Mittelrheintal. Zehn Minuten später, als das Schiff erneut am rechten Ufer anlegt, sind die Musiker gerade bei der dritten Strophe des Chorals "Großer Gott, wir loben dich" angekommen. Die Radler, die langsam vom Anleger auf das Fährschiff herunterrollen, schauen verwundert auf das Geschehen an Bord. Einen Gottesdienst auf einer Fähre - das hat es am Rhein noch nicht gegeben.
Idee der Fährbetreiber
Eine Dreiviertelstunde lang pendelt die evangelische Kirchengemeinde von St. Goarshausen auf dem Schiff zwischen den beiden Ufern hin- und her - mit Pfarrerin, Musikern und Altar an Bord. Da das komplette Mittelrheintal wegen des Aktionstags "Tal Total" an diesem 30. Juni ohnehin für Autos tabu bleibt, hat die Kirche kurzerhand die halbe Fähre in Beschlag genommen, mit Flatterband abgesperrt und Plastik-Gartenstühle aufgestellt. Die Idee dazu hatten die Fährbetreiber selbst. Helferinnen verteilen Liedblättchen an die Passagiere, und wer will, darf mitsingen. Die meisten Ausflügler beschränken sich jedoch darauf, das Geschehen mit ihrem Smartphone festzuhalten.
"Wussten Sie, dass auch Jesus Fähre gefahren ist?" begrüßt Janina Franz ihre Gemeinde. Weil es zwischen Mainz und Koblenz auf knapp 100 Kilometern Länge keine einzige Brücke über den Fluss gibt, spielen Fähren dort bis heute eine zentrale Rolle im Leben der Menschen. "Ich mag das, mit der Fähre zu fahren", sagt die Pfarrerin, "weil es entschleunigt." In ihrer Predigt schlägt sie den Bogen von Jesus, der laut biblischer Überlieferung den Sturm auf dem See Genezareth stillte, bis hin zum Leben im Rheintal, wo der ohrenbetäubende Lärm der Güterzüge seit Jahren viele Menschen um den Verstand bringt.
"Kirche aus dem Häuschen"
Die evangelische Gemeinde der Kleinstadt am Loreley-Felsen zieht es regelmäßig aus ihrer am Flussufer gelegenen Kirche hinaus zu ungewöhnlichen Gottesdienstorten. "Kirche aus dem Häuschen" heißt die Reihe, bei der der Altar auch schon einmal hinauf auf die Loreley gebracht oder in den kühlen Lagerräume einer Weinkellerei aufgebaut wird. Den Besuchern gefällt diese unkonventionelle Art von Kirche. "Wir dachten gleich: cool, da sind wir dabei", sagt Karina May aus einem Nachbardorf von St. Goarshausen. "Das ist auch nicht so steif, wie sonst manchmal in den Kirchen."
Nach sechs Überfahrten endet der ungewöhnliche Gottesdienst wieder am Fähranleger von St. Goarshausen. Auch manche Radler, die keine Kirchgänger sind, loben die Idee. Und bevor alle von Bord gehen, wird noch eine Kollekte gesammelt - für die Seenotretter im Mittelmeer, die nicht nur gegen den Sturm, sondern auch gegen die Ignoranz der europäischen Politik ankämpfen müssen.