Bremen (epd). Es ist fast wie ein Langstreckenlauf. Noch steht nirgends eine Speise, da hat Bankettleiter Heico Geffken jeden der 20 Tische in der historischen Oberen Rathaushalle in Bremen schon fünf Mal umrundet. Für das traditionelle Wilhelm-Kaisen-Bürgermahl liegt auf leicht gestärkten weißen Damast-Tischdecken das Ratssilber parat. An jedem Platz wartet neben dem Besteck ein goldumrandeter Brotteller mit Stadtwappen.
Am Ende werden mehr als 200 Gäste an den Tischen Platz nehmen, die wie Inseln wirken und über denen an schweren Eisenketten große Schiffsmodelle aus der Hansezeit schweben. Viel Arbeit für das Bankettmanagement um Geffken und seine Kollegin Svenja Winkler, die heute am Ende 14 Stunden auf den Beinen sein werden. Sie sind Experten in Sachen festlicher Tafel - egal ob in der Rathaushalle oder zuhause an Heiligabend oder Silvester.
Im Rathaus, Ausbildungsbetrieb für derzeit neun junge Männer und Frauen im Restaurantservice, haben sie schon für prominente Gäste aus aller Welt den Tisch gedeckt. "Festlich, aber bescheiden", so soll es diesmal sein, beschreibt Geffken die Leitlinie. Das Essen ist ein Dank für Ehrenamtliche und Sponsoren, die sich für soziale Belange in der Stadt engagieren.
"Gebrochene" Servietten
Dabei ist Vorbereitung alles. Bevor eingedeckt wird, wurden bereits die Servietten gefaltet, "gebrochen", wie es im Fachjargon heißt. Silberbesteck und Gläser sind frisch poliert. Die Tischdecken werden so aufgelegt, dass alle Mittelbrüche im Raum parallel verlaufen. Unterbrüche - Falten, die nach unten weisen - liegen in Richtung Eingangstür, damit der Gast beim Betreten des Raumes symbolisch gesehen nicht auf einen Berg schaut. Die Blumen auf den Tischen dürfen nicht zu hoch sein, damit sich beim Essen alle gut sehen können.
"Wenn ich nicht auf Kleinigkeiten achte, dann ist die Ruhe weg", ist Geffken überzeugt. "Ein sortierter, ein gepflegter Tisch sorgt für Vertrauen. Das ist Willkommenskultur." So zeige sich auch Respekt und Wertschätzung gegenüber dem Gast. Dazu gehöre auch die Bewegungsfreiheit am Platz. "60 Zentimeter sollte jeder bekommen", betont der leidenschaftliche Gastgeber. "Auch zu Hause an der Weihnachtstafel."
Der Theologe und Kulinaristiker Guido Fuchs spricht in diesem Zusammenhang von der "Achtsamkeit für den Moment". Essen sei eine Zeremonie, sagt der Experte des Hildesheimer Instituts für Liturgie- und Alltagskultur. Eine Zeremonie allerdings, die zunehmend seltener gepflegt werde. "Wer in Gemeinschaft isst, drückt das besonders Festliche des Tages aus, denn im Alltag wird es immer seltener, dass die ganze Familie zum Essen zusammensitzt. Schon gar nicht generationenübergreifend."
Weihnachten und Silvester sind in vielen Familien aber noch immer Anlässe, festlich zu decken und gemeinsam zu tafeln. Wie das die königlich-dänischen Tischeindecker auf Schloss Amalienburg für ein feierliches Silvestermenü gestalten, ist gerade in einer Ausstellung des Bremer Wilhelm-Wagenfeld-Hauses zu sehen. Die dänische Designerin Margrethe Odgaard hat dazu eine Tischdecke entworfen, auf der weiße Linien eingewebt sind, die genau vorgeben, wo was zu stehen hat: eine Vielzahl von Besteckteilen, Tellern und Gläsern.
Spiegel der Gesellschaft
"Die Tischdecke lenkt die Aufmerksamkeit auf soziale Konstellationen", erläutert Kathrin Hager, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Design-Museums. Und sie wirft Fragen auf: Wann behindern sich Ellenbogen? Wie viel Nähe unterstützt ein Gespräch? Wann fühlen sich Gäste wohl?
Die Kulturwissenschaftlerin sieht in der Tischkultur einen Spiegel der Gesellschaft. Wirkten zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Regeln aus höfischen Traditionen, spielten in den 1920er Jahren effektivere Arbeitsabläufe durch kurze Wege und neue Materialien eine Rolle. Neben sachlicher Moderne tauchte im Nationalsozialismus aus ideologischen Gründen "Volkskunst" wie Westerwälder Steingut und Bunzlauer Keramik auf den Tischen auf, wie aus einem Beratungsheft für Bäuerinnen unter dem Titel "Heimat deckt die Tische" hervorgeht.
Im Nachkriegsdeutschland kamen vermehrt skandinavische Einflüsse und auch individuellere Noten dazu. Genau wie in der Gesellschaft sei heute Vielfalt der Trend, sagt Hager. Doch egal, ob weiß oder bunt, bescheiden oder opulent gedeckt - "Hauptsache sorgfältig", meint Geffken und betont: "Der gedeckte Tisch sollte eine Seele haben."
Das sieht der Theologe Fuchs genauso und rät, auch unabhängig von äußeren Anlässen wie den jetzt anstehenden Feiertagen öfter zum Miteinander-Essen zusammenzukommen, im Restaurant oder in der Familie: "Das ist immer ein kleines Fest im Alltag."