Der Freitagmorgen vor Fastnacht begann für Udo Thart und seine Frau wie jeder andere auch. Um sechs Uhr früh hatte der Wecker geklingelt, und der Rheinland-Pfälzer aus Lörzweiler bei Mainz war gerade in seine Küche gegangen, um die Kaffeemaschine anzuschalten. Plötzlich hörte er Schreie von draußen vor dem Haus. Schnell zog er sich Jacke und Schuhe an und lief in die Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis er unter einer Straßenlaterne zwei Gestalten entdeckte. In einer erkannte Thart seinen Nachbarn. "Hilf mir, Udo, der bringt mich um", habe der attackierte Mann noch gerufen.

Ein Angreifer hatte dem Nachbarn aufgelauert, mit einem schweren Werkzeugschlüssel auf ihn eingeschlagen und ihn bereits schwer am Kopf verletzt. Was in den kommenden Augenblicken geschah, weiß Thart nicht mehr, er hat Erinnerungslücken. Sein Gedächtnis setzt erst wieder in dem Moment ein, als er den Täter überwältigt und zu Boden gedrückt hatte. Ganze 20 Minuten lang hätten die Männer so auf dem Boden verharrt, bis die Polizei eintraf. Ohne das beherzte Eingreifen wäre der Nachbar heute möglicherweise nicht mehr am Leben.

Keine Selbstverständlichkeit

Thart ist 51 Jahre alt, er hat kurzes graues Haar und trägt eine randlose Brille. Beruflich hat er mit Kreditversicherungen zu tun. In seinem Leben war er noch nie bei einem Selbstverteidigungskurs, als Jugendlicher nie in Schlägereien verwickelt. Und er findet, dass er alles Mögliche ist, aber jedenfalls kein Held. Dass sein Nachbar ihn für den Zivilcourage-Preis des rheinland-pfälzischen Innenministeriums, den Thart am 5. Dezember erhielt, vorschlug, war ihm anfangs gar nicht recht.

Dass Menschen anderen in Notsituationen zur Hilfe kommen, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit. Immer wieder hat unterlassene Hilfeleistung fatale Folgen. Für Aufsehen sorgte etwa der Fall eines alten Mannes, der 2017 in Essen im Vorraum einer Bankfiliale zusammenbrach und starb, weil er von anderen Bankkunden ignoriert wurde.

Der Sozialpsychologe und Zivilcourage-Trainer David Urschler von der Universität Jena gibt dennoch ein Stück weit Entwarnung: In offensichtlich gefährlichen Situationen stünden die Chancen nicht schlecht, dass jemand zur Hilfe komme, sagt er. Wovon es abhänge, ob jemand einschreitet oder wegschaut, sei nicht so einfach zu beantworten: "Es gibt da keine großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen oder zwischen Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern." Passanten schreckten vor allem dann von einem Eingreifen zurück, wenn die Situation unklar sei, wenn etwa bei sexuellen Belästigungen Täter und Opfer als Teil einer Gruppe oder Familie wahrgenommen würden.

"Zivilcourage trainieren"

"Man kann Zivilcourage gut trainieren", sagt Urschler. Es gebe eine ganze Reihe wirksamer Methoden, um brisante Situationen zu entschärfen. "Man kann Menschen einfach mal fragen, ob alles in Ordnung ist", rät der Wissenschaftler. Grundsätzlich sei es immer gut, nicht allein zu handeln, sondern sich Unterstützer zu suchen. Wer miterlebe, wie jemand in einem Bus belästigt werde, könne das Opfer an der Hand zum Ausgang führen, und den oder die Täter dabei komplett links liegenlassen. Aggressives Verhalten gegenüber dem Täter kann hingegen dazu führen, dass die Situation außer Kontrolle gerät.

Die Opferschutzorganisation "Weißer Ring" hat immer wieder mit Fällen zu tun, in denen Helfer durch ihr Eingreifen selbst zu Schaden kommen. Bei Gefahr sollte daher immer über 110 die Polizei gerufen werden, raten die Opferhelfer. Wer durch sein Eingreifen selbst zum Ziel einer Attacke werde, habe das Recht auf Notwehr. Gesetzlich sei auch ein Versicherungsschutz für Nothelfer geregelt, wenn etwa durch einen tätlichen Angriff ihre Kleidung oder Mobiltelefon beschädigt würden. Auch bestehe ein Anspruch auf Leistungen nach dem Opferschutzgesetz.

Udo Thart hatte in jener Februarnacht keine Wahl, außer ihm war weit und breit niemand auf der Straße. Und Zeit, auf die Polizei zu warten, war augenscheinlich auch keine mehr. Als er den Angreifer überwältigte, erlitt er Schürfwunden an den Händen, aber bereits am selben Tag fuhr er nach der Vernehmung zur Arbeit ins Büro. Die Polizei habe sich hinterher noch mehrmals bei ihm gemeldet, ihm Hilfe eines Seelsorgers angeboten, aber er habe das abgelehnt. Angst habe er jedenfalls im Dunklen nicht: "Was passiert ist, war so unwahrscheinlich wie ein Lottogewinn", sagt er. "Wieso sollte mir so etwas noch einmal passieren? Da bin ich sehr pragmatisch."