Kabul (epd). 51 Seiten lang sind die beiden Dokumente, die Karim Khan unterschrieb. Wegen einer „beispiellosen Verfolgung“ von Frauen und Mädchen beantragte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag Ende Januar Haftanträge gegen zwei hochrangige Taliban in Afghanistan: den obersten Anführer der Islamisten Haibatullah Achunsada und den obersten Richter Abdul Hakim Hakkani.

Khan wirft den beiden „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Geschlechterverfolgung“ vor. Bereits seit 2022 untersucht er im Auftrag von Strafgerichtshof-Vertragsstaaten wie Chile, Spanien oder Frankreich die Lage in Afghanistan. Anfang 2023 hatten ihn schließlich die Vereinten Nationen gebeten, zu prüfen, ob es in Afghanistan das „Verbrechen der geschlechtsspezifischen Verfolgung“ gebe.

Mehr als 80 Dekrete schränken Frauenrechte ein

In der Geschichte des IStGH ist dies bislang eine Seltenheit: Die „geschlechtsspezifische Verfolgung“ ist in Artikel 7 des Römischen Statuts, der vertraglichen Grundlage des Gerichtshofs, verankert, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert. Bisher wurde diese jedoch nur in drei weiteren Fällen zusammen mit anderen Verbrechen angeklagt, unter anderem gegen Täter aus Mali, der Zentralafrikanischen Republik und dem Sudan. Dass sich die Ermittlungen Khans nun jedoch ausschließlich auf geschlechtsspezifische Verbrechen konzentrieren, könnte ein Präzedenzfall sein für ähnliche Fälle systematischer Unterdrückung, wie beispielsweise im Iran.

Mit mehr als 80 Dekreten haben die Taliban seit ihrer Machtübernahme im August 2021 die Rechte von Frauen und Mädchen Schritt für Schritt eingeschränkt. Heute gehört das Land zu den restriktivsten der Welt: Frauen dürfen keine weiterführenden Schulen oder Universitäten besuchen, keine Schwimmbäder, Fitnessstudios, Schönheitssalons oder öffentliche Grünanlagen aufsuchen.

Strenge Auslegung der Scharia

Oberster Anführer der Bewegung ist der nun von Khan angeklagte sogenannte Emir Hibatullah Achunsada. Er residiert in Kandahar und tritt nur selten öffentlich in Erscheinung. Zusammen mit dem ebenfalls in Kandahar residierenden Obersten Richter und Justizminister Abdul Hakim Hakkani gehört er zum streng konservativen Flügel der Taliban. Der beruft sich auf eine Mischung aus Stammestraditionen und einer besonders strengen Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia, aus frühislamischer Zeit.

Hakkani gilt zudem als ideologischer Kopf der Bewegung. Mit seinem Buch „The Islamic Emirate and its System of Governance“ (Das islamische Emirat und sein Regierungssystem) lieferte er 2022 die religiös-ideologische Rechtfertigung für den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben.

Dass die Haftanträge die Taliban zu einer Änderung ihrer Politik bewegen, ist ebenso unwahrscheinlich, wie dass den beiden Männern tatsächlich der Prozess gemacht wird - auch weil der Strafgerichtshof eine Verurteilung in Abwesenheit ausschließt. Zwar müssten die 125 IStGH-Vertragsstaaten die Taliban-Führer innerhalb ihres Territoriums verhaften. Doch die beiden reisen selbst im eigenen Land kaum. Und trotz der Ächtung durch die Vereinten Nationen haben inzwischen immer mehr Staaten Beziehungen zu den Taliban aufgenommen, ohne die Regierung offiziell anzuerkennen.

Bestätigung im Kampf gegen die Politik der Taliban

Dennoch sehen viele Afghaninnen und Afghanen die Haftanträge als deutliches Signal und Bestätigung im Kampf gegen die Politik der Taliban. Die Entscheidung sei ein Hoffnungsschimmer im langen, dunklen Tunnel Afghanistans, die das Streben nach Gerechtigkeit für die afghanischen Frauen einen entscheidenden Schritt voranbringe, schrieb etwa die Aktivistin Fausia Kufi auf der Plattform X. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International haben den Vorstoß Kahns begrüßt. Sie sprechen von einer Art „Geschlechterapartheid“ in Afghanistan und fordern die Vereinten Nationen auf, das Vorgehen der Taliban als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen.

Das Taliban-Außenministerium erklärte in der letzten Woche, den Internationalen Gerichtshof und die Verpflichtungen des Römischen Statuts, denen Afghanistan 2003 unter der Vorgängerregierung beigetreten war, nicht anzuerkennen. Die Haftanträge seien vielmehr politisch motiviert und lediglich ein Spiegelbild westlicher Doppelstandards.