Frankfurt a.M. (epd). Die Lage in Äthiopien wird immer auswegloser. Eine friedliche Lösung des Tigray-Konflikts, der auf immer mehr Regionen im Land übergreift, ist nicht in Sicht - und wie es scheint, nicht gewollt. „Beide Seiten wollen militärisch gewinnen“, sagt Redie Bereketeab, Wissenschaftler am Nordic Africa Institute im schwedischen Uppsala. Er sehe daher nicht, „dass es zu diesem Zeitpunkt eine Verhandlungslösung geben kann“.
Die beiden Seiten sind: die Zentralregierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed und die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Letztere stellte in der nördlichen Region die Regierung, bevor sie bei einer Militäroffensive Abiys vor einem Jahr abgesetzt wurde. Es geht also um die Macht in Tigray und weit darüber hinaus, denn die TPLF war vor Abiys Amtsantritt 2018 auch maßgeblich an der Zentralregierung beteiligt - sie besetzte Schüsselstellen in Politik und Militär.
Der Krieg in Tigray begann mit Abiys Offensive in Reaktion auf einen TPLF-Angriff auf einen Militärposten. Inzwischen sind Tausende Tote, Hunderttausende Vertriebene und Millionen Hungernde zu beklagen. Am 4. November, dem ersten Jahrestag des Kriegsbeginns, rief Abiy in einer neuen Eskalation den Notstand aus und sicherte sich damit weitreichende Befugnisse. Er schwört die Bevölkerung nun auf den „Kampf für die Existenz und Souveränität des Landes“ ein.
„Akt der Verzweiflung“
„Nach Einschätzung der Regierung und auch der Mehrheit der Menschen versucht die TPLF, Äthiopien zu zerstören“, sagt Redie. Dass die Menschenrechte außer Kraft gesetzt würden, sei logische Folge eines Notstands. „Man muss verstehen, dass es in einem solchen Ausnahmezustand immer unschuldige Opfer gib“, verteidigt der Wissenschaftler die Position Abiys.
Äthiopien-Experte Wolfgang Heinrich wertet den Notstand als „Akt der Verzweiflung“ nach dem Vormarsch der „Tigray Defense Forces“, des militärischen Arms der TPLF, weit ins Landesinnere. Zugleich stehe nichts in der Notstandserklärung, was die Regierung nicht bereits mache: „Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit, die Verhaftung von Personen, die im Verdacht stehen, gegen die äthiopische Regierung zu sein, das Recht, jederzeit ohne rechtliche und gerichtliche Grundlage Häuser zu durchsuchen und Eigentum zu konfiszieren, das Recht Menschen zu den Waffen zu zwingen.“
Nach Einschätzung des langjährigen Entwicklungshelfers befindet sich das Land mit seinen 90 verschiedenen ethnischen Gruppen und 80 Sprachen bereits in einem Bürgerkrieg, vor dem die Vereinten Nationen und andere Beobachter immer eindringlicher warnen. „Es gibt unglaublich viele Konfliktlinien, wo im Moment militärisch agiert wird.“ So in den Regionen Amhara, Afar, Benishangul Gumuz, Oromia und zwischen mehreren Regionen. Er befürchte als „Horrorszenario“ einen Showdown in Addis Abeba, weil dies mit sehr viel Blutvergießen einherginge.
Beide Parteien verüben brutale Verbrechen, darunter Massaker und massive sexuelle Gewalt und haben sich laut den UN der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Zugleich ist es kaum möglich, verlässliche Informationen zu erhalten, da die Regierung die Konfliktregion systematisch abriegelt und beide Seiten Propaganda-Kampagnen betreiben. Mehr als vier der rund 115 Millionen Äthiopier und Äthiopierinnen sind den UN zufolge im Land auf der Flucht, mehr als 26 Millionen brauchen Hilfe, um zu überleben.
Problem des ethnischen Föderalismus
Für Redie Bereketeab ist die zentrale Zukunftsfrage die nach der politischen Struktur. Derzeit ist Äthiopien föderalistisch organisiert, die Regionen orientieren sich an ethnischer Zugehörigkeit. „Manche sehen im ethnischen Föderalismus das zentrale Problem des Landes und die Gefahr, dass es auseinanderbricht.“ Doch die Vertretungen ethnischer Gruppen wollten ihre Autonomie nicht einbüßen.
Eine Verständigung werde es allerdings nicht geben, solange Abiy an der Macht sei, ist sich Heinrich wiederum sicher. „Die TPLF kann nicht mit Abiy reden nach den Grausamkeiten, die der Tigray-Bevölkerung angetan worden sind.“ Wahrscheinlich werde die TPLF nach einer Rückkehr an die Macht in der Region ein Referendum über die Unabhängigkeit Tigrays abhalten. „Mit den Erfahrungen, die die Menschen in Tigray jetzt mit der äthiopischen Regierung und den äthiopischen Sicherheitsorganen gemacht haben, ist das Ergebnis schon vorhersehbar.“ Und dann würden vermutlich andere Regionen nachziehen: „Das ist ein vorhersehbares Szenario.“