Hannover (epd). Sie kennt das schon: Martina Nesteroks Zug kommt diesmal auf Gleis 10 statt auf Gleis 11 an. „Im Moment fährt mein Zug jeden Tag woanders. Wenn ich die Bahnhofsmission nicht hätte, würde ich den nie erreichen.“ Die 61-Jährige ist blind. Sie pendelt aus Bielefeld zu ihrem Arbeitsplatz nach Hannover. An Gleis 10 wartet schon Kirsten Heinrich. Sie arbeitet seit elf Jahren ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission. Als sie die „Stammkundin“ erblickt, geht sie schnellen Schrittes auf sie zu, hakt sie unter und geleitet sie sicher über den Bahnsteig.
Nesterok ist dankbar für diese Unterstützung im Bahnhofs-Gewusel: „Manchmal laufen dir Leute über den Blindenstock, weil sie aufs Handy gucken.“ 2,2 Millionen Menschen nehmen die Hilfe der Bahnhofsmission bundesweit jährlich in Anspruch. Darunter sind viele ältere Menschen, die sich an großen Bahnhöfen nicht zurechtfinden oder fürchten, ihren Anschlusszug nicht zu erreichen.
Wer Unterstützung benötigt, kann sich vorher telefonisch oder per E-Mail melden. Die Mitarbeiter können am Computer aktuelle Verspätungen und Gleisänderungen einsehen. Dabei arbeiten sie eng mit der Bahn zusammen, die Reisenden ebenfalls behilflich ist. „Die Bahn ist zum Beispiel für Rollstuhlfahrer zuständig“, erläutert Heinrich. Die Mitarbeiter hätten für solche Zwecke eine Rampe und wüssten, wie man Menschen mit Rollstuhl in den Zug schiebt.
„Niemand muss uns seinen Namen sagen“
In den Räumen der Ökumenischen Bahnhofsmission unterhalb von Gleis 14 am Nordwest-Ausgang ist zurzeit wenig Betrieb - wegen Corona. „Sonst wäre die Bude bei dem nasskalten Wetter voll“, sagt Heinrich. Aktuell hält sie mit ihrer Kollegin Erika Schulze und einem hauptamtlichen Mitarbeiter allein die Stellung. Vor Corona konnten sich hier Menschen, die den Zug verpasst hatten, oder auch Obdachlose bei einem Tee oder Kaffee aufwärmen. „Niemand musste uns seinen Namen sagen oder sich ausweisen“, sagt Schulze. „Es sollte bewusst niedrigschwellig sein.“
In Zeiten der Pandemie, wo überall die Personendaten erhoben werden müssen, sei das so nicht mehr möglich, was beide bedauern. „Für manche Menschen sind wir ein Anker, wir konnten die Uhr danach stellen, wann sie kommen.“ Mit Sorge schauen die Mitarbeiterinnen deshalb auf den bevorstehenden Winter. Warme Kleidung oder Mützen für Bedürftige müssen sie jetzt vor der Tür ausgeben. Die Stadt Hannover will für Entlastung sorgen und Wohnungslosen ermöglichen, sich bei Minusgraden auch tagsüber in den Notschlafstellen aufzuhalten.
Während des Lockdowns war die Bahnhofsmission nur mit hauptamtlichen Kräften besetzt, die 30 Ehrenamtlichen wurden nicht zu den üblichen Schichten eingeteilt. Heinrich wollte in dieser Zeit nicht tatenlos bleiben und engagierte sich zusätzlich bei den Johannitern, die mit ihren Kältebussen an mehreren Punkten in Hannovers Innenstadt Station machen und Obdachlose mit Essen, warmem Tee, trockener Kleidung und Decken versorgen. Im „normalen“ Leben arbeitet Heinrich als freiberufliche Gesundheitstrainerin.
Lebensmittelspenden einsammeln
Was hat sie zur Bahnhofsmission verschlagen? Jedenfalls nicht der Begriff „Mission“, da ist sie sich mit Schulze einig. Gleich zweimal hatte Heinrich in ihrer Kindheit und Jugend schlechte Erfahrungen mit evangelischen Pastoren gemacht, erst im Konfirmandenunterricht, später in der Berufsschule. „Der eine hielt sich für göttlicher als Gott“, sagt die 69-Jährige, die auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein aufwuchs. Sie trat aus der Kirche aus. „Ich bin praktisch evangelisch und lebe den christlichen Glauben. Aber ich habe bis heute keine Veranlassung gesehen, wieder einzutreten.“ Ihre Kirchensteuer arbeite sie quasi ab, sagt sie.
Die ebenfalls 69-jährige Schulze ist katholisch und arbeitet seit 15 Jahren ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission. „Ich war viele Jahre kirchenfern, weil mir das alles zu altmodisch war.“ Dass sie im Ruhestand wieder „was mit Kirche“ macht, war ihr dennoch wichtig. „Nach fast 42 Jahren als Lehrerin wollte ich nicht von 110 Prozent auf Null gehen“, sagt die Hannoveranerin.
Beide Frauen kümmern sich daher gern um Reisende, Hilf- und Obdachlose und klappern kurz vor Feierabend mit einem Kofferkuli die Bäckereien im Hauptbahnhof ab, um nicht verkaufte Brötchen und andere Lebensmittelspenden einzusammeln, die dann über diakonische Einrichtungen wie den Kontaktladen „Mecki“ verteilt werden. Nach wie vor mag Heinrich den Abwechslungsreichtum an der Arbeit, gerade am Bahnsteig: „Es ist erstaunlich, was die Menschen einem alles in ein paar Minuten erzählen. Das ist manchmal sehr berührend.“