Berlin/São Paulo (epd). Wenn Padre Júlio Lancellotti aus São Paulo frühmorgens im Gemeindezentrum im Stadtteil Belém eintrifft, ist die Schlange schon lang. Mehr als 100 Menschen warten auf einen heißen Kaffee und ein Stück Weizenbrot. Obdachlose stehen neben Müttern mit Kleinkindern auf dem Arm und Menschen, die in der Pandemie ihren Job verloren haben. „Viele der Menschen hier müssen sich entscheiden, ob sie ihr Geld für die Miete oder für Essen ausgeben“, sagt Lancelotti.

Der zentral gelegene Stadtteil Belém gehörte einst zur Mittelklasse. Jetzt steht er exemplarisch für die humanitäre Krise im Land. Immer mehr Menschen hätten keinen ausreichenden Zugang mehr zu Nahrungsmitteln, sowohl quantitativ als auch qualitativ, sagt der heute 72-jährige Padre, der sich seit mehr als 40 Jahren um Bedürftige in Brasiliens größter Metropole kümmert. Von einem Supermarkt hat er gerade mehrere Paletten mit Joghurt abgeholt.

„Ergebnis einer geplanten Politik“

Der Hunger ist wieder Realität in der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas geworden. Nach einer Erhebung der Nationalen Kommission zur Ernährungssicherheit mussten 2020 mehr als 19 Millionen Menschen und damit rund zehn Prozent der Bevölkerung in Brasilien Hunger erleiden. Zwei Jahre zuvor traf das noch auf rund 10,3 Millionen Menschen zu. Knapp 60 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer und damit 125,6 Millionen Menschen haben der Untersuchung zufolge Tag für Tag nicht genug zu essen.

Für Brasilien ist das ein enormer Rückschritt, der nicht nur mit der Pandemie erklärt werden kann. „Hunger ist keine realitätsfremde Erscheinung. Es ist das Ergebnis einer geplanten Politik, die dafür sorgt, dass Brasilien zwei Dutzend Milliardäre hervorgebracht hat, während gleichzeitig etwa 20 Millionen Menschen hungern“, sagt Douglas Belchior, ein Aktivist für die Rechte der Afro-Brasilianer.

2014 von Welthungerkarte gestrichen

2014 feierte Brasilien, dass es aus der Welthungerkarte der Vereinten Nationen gelöscht wurde. Vorausgegangen war mehr als ein Jahrzehnt, in dem die Bekämpfung von Armut oberste Priorität der Regierungen unter den linken Staatschefs Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff hatte. 2010 wurde in die Verfassung das Recht auf Nahrung als soziales Grundrecht aufgenommen.

Lula hatte unmittelbar nach seinem Amtsantritt 2003 das Programm „Fome Zero“ („Null Hunger“) gestartet, das international als Vorbild galt. Dazu kam das weltweit größte Sozialprogramm „Bolsa Família“. Bedürftige Brasilianer erhielten monatliche Zuschüsse, mit denen sie Grundnahrungsmittel einkaufen konnten. Bedingung für die Auszahlung der Gelder war: Die Kinder mussten regelmäßig in die Schule und zum Arzt gehen. In den zwölf Jahren seit Bestehen des Programms konnten so etwa 36 Millionen Menschen aus extremer Armut und Unterernährung herausgeholt werden.

Gleichzeitig wurden die Landesregierungen verpflichtet, dass für die Versorgung von Schulen, Kindertagesstätten und Hospitälern nur von Kleinbauern produzierte Nahrungsmittel angekauft werden. Das Programm sicherte so kleinen Familienbetrieben auf dem Land ein Einkommen. Doch mit der Wirtschaftskrise und nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff wurden fast alle Mittel für das Programm gestrichen. 2017 verfügte die Nachfolgeregierung unter Michel Temer zudem eine Deckelung aller öffentlichen Ausgaben. Die rigide Sparpolitik hatte vor allem Auswirkungen auf die Sozialprogramme und das staatliche Bildungssystem.

„Es fehlt an Gerechtigkeit“

Nach seinem Amtsantritt 2019 machte der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro gegen „Bolsa Família“ mobil und wollte dieses „Überbleibsel“ der linken Vorgängerregierungen abschaffen. Aber mit sinkenden Umfragewerten und der anstehenden Wahl im kommenden Jahr entdeckte Bolsonaro die Armen für sich. Während der Pandemie verkündete er, die Hilfen für Bedürftige beizubehalten - allerdings zunächst nur bis Jahresende.

Der Dominikaner Frei Betto, Regierungsberater für „Fome Zero“ unter Präsident Lula, betont: „Brasilien hat 190 Millionen Einwohner und zählt zu den fünf größten Nahrungsmittelproduzenten der Welt. Wir leiden also nicht an einem Mangel an Lebensmitteln und auch nicht an einem Überschuss an hungrigen Mündern. Es fehlt an Gerechtigkeit.“ Ein Zehntel der Bevölkerung in Brasilien verfüge über 50 Prozent des Reichtums.