Kassel (epd). Ein Jahr vor Eröffnung der 15. Ausgabe der documenta in Kassel vom 18. Juni bis 25. September 2022 laufen weltweit die Leitungen im Internet heiß, eine Zoom-Konferenz jagt die andere. Die Entscheidung der documenta-Gremien Anfang Juli, die Weltkunstausstellung planmäßig vor Ort stattfinden zu lassen, freut die Generaldirektorin der documenta, Sabine Schormann. Auf künftige Infektionsschutz-Auflagen bereite man sich vor: „Wir denken entsprechende Maßnahmen wie großzügige Standorte mit Innen- und Außenbereichen, Leitsystem und Zeitfensterbuchung bei allen Vorbereitungen mit.“
Kuratiert wird die documenta 15 erstmals von einem Künstlerkollektiv. Die neun Künstler und Künstlerinnen von „Ruangrupa“ aus Jakarta haben ihr Konzept für die documenta unter den Titel „Lumbung“ gestellt. Der Begriff bezeichnet im Indonesischen eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, er steht für solidarisches und kollektives Arbeiten.
Nachhaltigkeit, Klimawandel und soziale Gerechtigkeit
Übertragen auf die Kultur und die globalen Strukturen einer Weltausstellung dient der Begriff als Arbeitsmodell, eine Methode gemeinschaftlichen Agierens, das nicht nach vorgefertigten Konzepten entstehe, sondern prozesshaft sei, erklärte „Ruangrupa“-Mitglied Farid Rakun dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Wir sind auf der Suche nach Herangehensweisen, die dieses Konzept reflektieren, auch wenn sie sehr verschieden sind, von denen wir lernen können. Wir wollen Lumbung nicht einfach mit künstlerischen Projekten illustrieren, sondern bereichern.“
Noch nie in ihrer Geschichte stand die Weltkunstausstellung in Kassel vor so komplexen globalen Herausforderungen. Zentrale Fragen wie Nachhaltigkeit, Klimawandel, soziale Gerechtigkeit und die gerechte Verteilung von Ressourcen sollen daher im Mittelpunkt stehen. 53 internationale Künstler habe man ausgewählt, die nach diesen Kriterien arbeiten. Die endgültige Liste wolle man im Oktober bekannt geben. Das Ziel sei es, eine interdisziplinäre Kunst- und Kulturplattform zu schaffen, auf der Ideen, Wissen, aber auch innovative Programme geteilt werden können und die über die 100 Tage der documenta hinaus ihre Wirkung entfaltet, sagte Rakun.
„RuruHaus“ Andockstation für internationale Künstler
Mitglieder des neunköpfigen Kuratorenteams sind - trotz Corona - in Kassel präsent. Zwei Familien zogen bereits vor einem Jahr von Jakarta hierher. In Kassel, erklärt Indra Ameng von „Ruangrupa“, der vor Ort arbeitet, habe man insbesondere über das gemeinschaftliche „RuruHaus“ ein Labor für die documenta eingerichtet, von dem aus erste Fäden in die Stadt und zu ihren Bewohnern gesponnen werden.
Das Gebäude in der Innenstadt im Stil der 1950er-Jahre-Architektur, einst Domizil eines Sportgeschäfts, ist der erste Spielort der documenta 15. In der Vorbereitung der Kunstausstellung dient er als Basis, von der aus Verbindungen zu Initiativen vor Ort geknüpft werden. Eingeladen sind Künstlerinnen und Künstler, Studierende aber auch andere Gemeinschaften, den Ort mit Leben zu füllen.
Zugleich ist das „RuruHaus“ die Andockstation für internationale Künstler, die zur Teilnahme an der documenta 15 eingeladen sind. Zum kuratorischen Konzept gehört auch die Einbeziehung eines Netzwerks weiterer Künstlerkollektive. Zu den insgesamt 14 „Lumbung“-Mitgliedern kommt das „Wajukuu-Art Project“ aus Nairobi in Kenia. Seit 2004 arbeitet das Künstler-Kollektiv vor allem mit Kindern und Jugendlichen im Mukuru-Slum am Rande Nairobis nahe einer Mülldeponie.
Fokus auf industriell geprägten Osten Kassels
Kunst als Lebenseinstellung zu vermitteln und die jungen Menschen zu stärken und die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen ist das Anliegen des Projekts. Die Herangehensweise von „Wajukuu“ beschreibt Shabu Mwangi: „Wir beziehen Musik und das Erzählen von Geschichten in eine ortsspezifische Installation ein.“ Für die Gruppe ist die Mitwirkung an der „documenta“ eine Chance, ihre künstlerische Arbeit international stärker sichtbar zu machen.
Dass sich die Auswirkungen der Corona-Pandemie im künstlerischen Programm der documenta 15 niederschlagen werden, steht für das Kuratorenteam „Ruangrupa“ außer Frage. Kunst und Leben gehörten ohnehin zusammen, betont Farid Rakun. Bereits vor Corona habe man über eine große Onlinepräsenz nachgedacht, die die physischen Formate über Kassel hinaus ergänzen werden.
Über die Hauptstandorte der documenta 15 will Generaldirektorin Schormann noch nichts verraten. Der Fokus soll jedoch auf dem industriell geprägten Osten Kassels liegen: Man wolle einen großen Ausstellungskomplex konzipieren an Orten, „die bisher noch nicht von der documenta genutzt wurden.“