

Würzburg (epd). 550.000 Menschen waren in Deutschland im Jahr 2024 von Wohnungslosigkeit betroffen, so der Wohnungslosenbericht des Bundesministeriums für Wohnen. In Bayern waren 2024 etwa 40.000 Personen in Einrichtungen der Kommunen und der Freien Wohlfahrtspflege untergebracht, 20 Prozent mehr als im Vorjahr, sagt die Diakonie. Eine Möglichkeit, Menschen wieder zur eigenen Wohnungen zu verhelfen, könnte das Konzept Housing First sein. Der Bundesverband Housing First trifft sich zu einem Fachtag am 23. April in Würzburg. Der Evangelische Pressedienst (epd) sprach mit dem Vorsitzenden Kai Hauprich über die Chancen und Grenzen von Housing First. Die Fragen stellte Jutta Olschewski.
epd sozial: Das Konzept Housing First gegen Obdachlosigkeit gibt es bereits seit 30 Jahren. Ein griechisch-kanadischer Psychologe brachte den Gedanken auf: Obdachlose Menschen sollen den Schlüssel für eine Wohnung erhalten, erst einmal zur Ruhe kommen und dann - auch mit sozialpädagogischer Hilfe - wieder Tritt fassen. Hat diese Idee in einer Leistungsgesellschaft wirklich eine Chance?
Kai Hauprich: Wenn wir daran nicht glauben würden, täten wir diese Arbeit nicht. Was unsere Gesellschaft wirklich auszeichnet, ist doch die garantierte Menschenwürde. Es kommt darauf an, dass die Menschen ihr Existenzminimum und vor allem die Selbstbestimmung über ihr Leben zurückbekommen.
epd: Ist das Konzept Housing First die Lösung aller Probleme auf dem Gebiet der Obdachlosigkeit, weil es den Teufelskreis durchbricht: ohne Wohnung keine Rückkehr in die Gesellschaft?
Hauprich: Das Allheilmittel gegen Wohnungslosigkeit ist der soziale Wohnungsbau. Housing First muss seinen Platz in der Hilfelandschaft haben, indem es Leuten mit komplexen Problemlagen, für die wir sonst keine Mittel mehr gefunden haben, hilft, selbstbestimmt zu leben. Das Mittel ist klug, menschenfreundlich und kosteneffizient und stellt die grundlegende Frage, wie unser Hilfesystem funktioniert.
epd: Wie findet man Vermieter, die bei dem Konzept mitmachen?
Hauprich: Das erste Argument ist, der Vermieter erhält eine sichere Miete direkt vom Amt. Ein Risiko gehen ja Vermieter immer ein. Wir müssen ihnen die Ängste vor menschlichen Problemen nehmen, die sie nicht einschätzen können, wenn sie mit Leuten unter einem Dach wohnen, die draußen gelebt haben oder beispielsweise suchtkrank sind. Dann stellen sie fest, dass da ein normaler Mensch lebt, der ihre DHL-Pakete annimmt und nicht in den Hauseingang uriniert. Solche bürgerlichen Ängste gab es. Anfangs wurden wir ausgelacht, wir würden niemals Wohnungen finden, aber inzwischen haben die 40 bis 50 Housing-Projekte in ganz Deutschland 500 Menschen aus der chronischen Obdachlosigkeit vermittelt. Wir haben 500 Mal vorgemacht, dass das geht und werden inzwischen von Privatpersonen und Genossenschaften wegen einer Zusammenarbeit angesprochen.
epd: Welche Veränderungen gehen in den Menschen vor, die im Rahmen von Housing First eine Wohnung erhalten?
Hauprich: Solange Menschen obdachlos sind, suchen sie nach einem Schlafplatz und müssen sich um ihr Überleben kümmern und haben nicht die Ruhe, darüber nachzudenken, was mit ihrem Leben passiert. Wenn sie eine eigene Wohnung haben, beginnt erstmal eine innere Einkehr. Manche denken dann, sie würden gerne ihre Familie wieder sehen oder sie möchten arbeiten gehen. Jeder ist da anders. Über meinem Schreibtisch hängt der Satz von Eugen Roth: „Menschen wirken wie verwandelt, wenn man sie als Mensch behandelt.“ Wir erleben, ihr Wesenskern kommt zum Tragen und Glänzen.
epd: Teilhabe geht nicht ohne Geld. Man kann nicht ins Theater gehen, anderen keine Geburtstagsgeschenke kaufen. Also mit einer Wohnung allein ist es nicht getan, oder?
Hauprich: Das ist das echte Defizit von Housing First: Es macht nicht reich, gesund und glücklich. Das eigentliche Problem der wirtschaftlichen Armut löst es nicht mit Feenstaub. Die Menschen müssen ihre Probleme angehen, Geld beim Jobcenter beantragen, Möbel anschaffen, um jemanden einzuladen, den Kühlschrank füllen. Aber es ist auch ein strukturelles Problem, wie Menschen aus der wirtschaftlichen Armut herauskommen und Teilhabe erreichen.
epd: Es gibt in Deutschland derzeit geschätzt zwei Millionen leer stehende Wohnungen, Ferienwohnungen, Zweitwohnungen und unvermietbare Luxuswohnungen. Wie kommen wir dahin, dass bezahlbarer Wohnraum eine gemeinschaftliche Aufgabe ist und kein Spekulationsobjekt mehr?
Hauprich: Rufen Sie mich noch einmal an, wenn Sie darauf eine Antwort wissen. Wir sehen Angebote für 40-Quadratmeter-Wohnungen in Düsseldorf für 1.500 Euro kalt, und vor solchen hochpreisigen Wohnungen schläft vielleicht ein Mensch und friert. Die großen Fehler sind in den 1990er Jahren gemacht worden, als man begann, den sozialen Wohnungsbau sukzessiv auslaufen zu lassen und man die Wohnung nicht mehr als Daseinsvorsorge betrachtet hat. Auf politischer Seite hat man zugelassen, dass Wohnen zum Spekulationsobjekt wurde. Es gibt auf das Problem keine schnelle Antwort, aber wir müssen den sozialen Wohnungsbau reaktivieren. Ein Grundbedürfnis des Lebens darf man nicht dem Markt überlassen.
epd: Und wie finden Sie auch unter diesen Gesichtspunkten, was die künftige Regierungskoalition zum Thema Wohnen in den Koalitionsvertrag geschrieben hat?
Hauprich: Wohnungs- und Obdachlosigkeit kommen im Koalitionsvertrag leider nur in einem einzigen Absatz vor. Das ist gemessen an der gesellschaftlichen Tragweite des Themas deutlich zu wenig. Gerade in einem der reichsten Länder der Welt ist Obdachlosigkeit keine Notwendigkeit, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es braucht endlich eine klare Kehrtwende in der Wohnungs- und Sozialpolitik. Denn Kürzungen im sozialen Bereich haben ein enormes Spaltungspotenzial - sie treffen die Schwächsten und gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir erwarten, dass der politische Wille nun ernsthaft in die Umsetzung geht und auch, dass Housing First flächendeckend als Leitprinzip etabliert wird.