sozial-Branche

Familie

Gastbeitrag

ABC-Programm: Neues Angebot für Pflegefamilien




Melanie Gehring-Weigele
epd-bild/Karl Kübel Stiftung/Jürgen Fischer
Die Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie hat im Jahr 2024 ein Modellprojekt gestartet, um das "Attachment and Biobehavioral Catch-up"-Programm (ABC) in Deutschland als neues Beratungsangebot für Pflegefamilien zu etablieren. Warum das wichtig ist und was das Besondere des Ansatzes ist, erläutert Melanie Gehring-Weigele vom Odenwald-Institut der Stiftung in ihrem Gastbeitrag für epd sozial.

Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können, sind eine besonders vulnerable Gruppe. Sie haben ein hohes Risiko, Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten sowie Schulprobleme auszubilden. Grund dafür ist die Trennung von ihrer Herkunftsfamilie, oft verbunden mit der Erfahrung von Vernachlässigung oder Misshandlung. Studien berichten übereinstimmend von psychischen Problemen bei 30 bis 60 Prozent der Pflegekinder und von Beeinträchtigungen in der kognitiven Entwicklung sowie bei der Entwicklung von selbstregulativen Kompetenzen.

Demgegenüber zeigen wissenschaftliche Befunde, dass insbesondere der Aufbau von sicheren verlässlichen Bindungsbeziehungen ein wichtiger Schutzfaktor für die Entwicklung dieser Kinder darstellt. Er trägt dazu bei, dass sie sich trotz belastender Erfahrungen langfristig positiv entwickeln können.

Ansätze zur Verbesserung von Pflegeverläufen

Die Aufnahme eines Pflegekindes stellt Pflegeeltern vor zahlreiche Herausforderungen: Neben der Integration des Kindes in die eigene Familie müssen sie oft zusätzlich dessen traumatische Erfahrungen und die damit verbundenen herausfordernden Verhaltensmuster auffangen. Häufig reagieren die Pflegekinder auf elterliche Nähe abweisend, bei Kummer lassen sie sich schlecht trösten. Diese vermeintliche Ablehnung macht es den Pflegeeltern mitunter schwer, die Bedürfnisse des Pflegekindes stimmig wahrzunehmen und feinfühlig darauf einzugehen. Pflegeeltern fühlen sich in dieser Situation schnell überfordert und rutschen in eine krisenhafte Situation, die nicht selten zu einem Abbruch des Pflegeverhältnisses führt.

In der Regel werden Pflegefamilien in Deutschland von Fachkräften auf ihre Aufgabe vorbereitet. Dabei kommen verschiedenste Programme zum Einsatz, unter anderem die Entwicklungspsychologische Beratung (EPB), das bindungsorientierte Programm SAFE® oder STEEP™. Einige wenige Interventionsansätze mit Schwerpunkt auf der Bindungsförderung sind speziell für Pflegefamilien entwickelt worden. Dazu gehört das von der amerikanischen Bindungsforscherin Mary Dozier und ihrem Team entwickelte ABC-Programm, das eine praxisnahe Unterstützung für Pflegefamilien anbietet. Es fördert nicht nur sichere Bindungen zwischen Kindern und Pflegeeltern, sondern setzt auch an den Ressourcen der Pflegeeltern an.

Was ist das Besondere am ABC-Ansatz?

Das ABC-Programm ist als Kurzzeitberatung angelegt und umfasst zehn einstündige Hausbesuche. Die Beratung verfolgt hauptsächlich drei Ziele:

• Pflegeeltern sollen lernen, abweisende kindliche Signale zu reinterpretieren und dem Kind auch dann Fürsorge zu geben, wenn es den Anschein erweckt, diese Fürsorge nicht zu benötigen. • Pflegeeltern sollen lernen, ihre eigenen Bindungserfahrungen und ihre Schwierigkeiten, feinfühlig auf das Kind einzugehen, zu reflektieren. • Pflegeeltern sollen das Pflegekind dabei unterstützen, selbstregulierende Fähigkeiten zu entwickeln, indem sie eine auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtete Umgebung schaffen. Das stärkt dessen Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen und besser mit Stress umzugehen.

Der ABC-Ansatz ist gut erforscht und evaluiert

Der ABC-Ansatz gilt als der weltweit erfolgreichste bindungsorientierte Ansatz für Pflegefamilien mit Kindern im Alter von 6 bis 48 Monaten. Studien aus den USA (University of Delaware) und Deutschland (Deutsches Jugendinstitut) haben gezeigt, dass Pflegekinder, die am ABC-Programm teilgenommen haben, besser gelingende Bindungsbeziehungen aufbauen können und langfristig in Pflegefamilien bleiben. Wechsel und Aufenthalte in Wohngruppen oder Heimen werden so vermieden. Forschungen belegen auch die langfristige positive Auswirkung von ABC auf die kindliche Entwicklung.

Das ABC-Beratungsangebot bietet nicht nur bereits bestehenden Pflegefamilien Unterstützung, sondern kann auch mehr Familien motivieren, ein Pflegekind aufzunehmen. Der Bedarf an weiteren Pflegefamilien ist groß. Nach Schätzungen des Bundesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien fehlen jährlich rund 4.000 Pflegefamilien in Deutschland. Insgesamt gab es hierzulande im Jahr 2021 rund 87.000 Kinder, die in Pflegefamilien aufwachsen, weitere 123.000 Kinder und Jugendliche sind in Heimen untergebracht.

Modellprojekt der Karl Kübel Stiftung läuft bis 2027

Die Karl Kübel Stiftung bildet bis Ende 2027 insgesamt 30 ABC-Beraterinnen und -Berater in ihrem Institut aus. Die Stiftung hat die Ausbildung initiiert, weil sie eine ideale Ergänzung ihrer Angebote im Bereich Frühe Hilfen ist und auf ihr Stiftungsziel einzahlt: Eltern zu unterstützen, damit sie ihre Kinder liebevoll umsorgen und fördern können.

Die Ausbildung der ABC-Beraterinnen und -Berater dauert ein Jahr. An den viertägigen Präsenztermin schließt sich eine einjährige Praxis- und Supervisionsphase an: Die Beraterinnen und Berater erhalten eine kontinuierliche Supervision, um zu trainieren, wie sie den ABC-Ansatz ideal umsetzen können. Während der Modellphase ist die ABC-Ausbildung kostenfrei. Für die Ausbildungsstaffeln im Dezember 2025 und Dezember 2026 gibt es noch freie Plätze. Interessierte erhalten weitere Informationen im Odenwald-Institut.

Das ABC-Pilotprojekt wird vom Deutschen Jugendinstitut wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Die Dietmar Hopp Stiftung und die N&B Stiftung unterstützen die Evaluation finanziell. Ziel ist es, die Wirksamkeit der Beratung auch in Deutschland zu überprüfen und die Umsetzbarkeit in den Regelstrukturen zu untersuchen. Langfristiges Ziel der Karl Kübel Stiftung ist es, das Beratungsangebot flächendeckend im deutschsprachigen Raum zu etablieren.

Melanie Gehring-Weigele ist pädagogische Referentin am Odenwald-Institut der Karl Kübel Stiftung und fachliche Leitung des ABC-Projekts.