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Anonymer Krankenschein: Dauerhafte Notlösung




Anonymer Krankenschein (AKS)
epd-bild/M. Thüsing
Seit 2009 gilt in Deutschland eine allgemeine Krankenversicherungspflicht. Trotzdem gibt es immer noch Menschen, die keinen Zugang zu medizinischen Behandlungen erhalten. Das Modell des Anonymen Krankenscheins hilft hier. Die meisten Angebote gibt es seit 2016 in Thüringen.

Erfurt (epd). Insgesamt 212 Patienten haben im zurückliegenden Jahr den sogenannten „Anonymen Krankenschein Thüringen“ (AKST) für 650 Behandlungen genutzt. Dabei richtet sich das Angebot des gleichnamigen Vereins an geschätzt bis zu 21.000 Menschen im Freistaat, sagt der Projektkoordinator des gemeinnützigen Vereins, Tim Strähnz.

An derzeit 37 Ausgabestellen in ganz Thüringen könnten Patienten über den Verein einen begutachtenden Arzt konsultieren, um einen sogenannten Anonymen Krankenschein zu erhalten. Dieser garantiere eine Kostenübernahme bis zu 500 Euro für medizinische Behandlungen in einer jeweils frei zu wählenden Arztpraxis. Die für den Mediziner abrechenbaren Leistungen entsprechen dabei in weiten Teilen denen der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch teurere Behandlungen seien möglich, müssen jedoch im Voraus beim AKST beantragt werden.

Zahl der Nutzer steigt ständig an

Unzufrieden mit der scheinbar geringen Inanspruchnahme des Angebots ist Strähnz nicht. Im Gegenteil: Die Zahlen stiegen von Jahr zu Jahr an. Und die Projektmittel im Thüringer Landeshaushalt seien begrenzt - im Vergangenen Jahr auf rund 465.000 Euro. „Der Anstieg ist aus unserer Sicht auch weniger auf den gestiegenen Bedarf, als vielmehr auf einen gewachsenen Bekanntheitsgrad unseres Angebots zurückzuführen“, sagt er. Zum Start des Modellprojekts im Jahr 2017 seien gerade mal 76 Krankenscheine für 40 Patienten abgerechnet worden.

Damals verfolgte das im Jahr zuvor vom Freistaat aufgelegte Angebot laut Thüringer Sozialministerium vor allem Ziel, auch Ausländern ohne gültigen Aufenthaltsstatus in Thüringen eine medizinische Versorgung zu ermöglichen. Auf dem Höhepunkt des Zustroms für Geflüchteten nach Deutschland mussten Betroffene in Thüringen ihre Ausweisung befürchten, sobald sie Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen würden.

Paralleles Angebot der Clearingstellen

„Schnell hat sich jedoch herausgestellt, dass nicht nur Geflüchtete Bedarf an dem Angebot anmeldeten“, sagt die Sprecherin des Thüringer Sozialministeriums, Silke Wiesenthal. Das soziale Netz der Bundesrepublik weise Lücken auf. Soloselbstständige, Obdachlose, Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen oder Suchtkranke müssten mitunter hohe Hürden überwinden, um in die Krankenversicherung zurückzukehren.

Deshalb wird jedem Antragsteller parallel zur Klärung seiner medizinischen Probleme ein sogenanntes Clearingverfahren angeboten. Dabei sucht der Verein gemeinsam mit dem Patienten nach Möglichkeiten, den Versicherungsschutz über die gesetzliche Krankenversicherung wiederherzustellen. 2023 konnte der Verein in etwa einem Drittel der 80 Patienten, die ein Clearing durchlaufen haben, die Krankenversicherung wieder herstellten oder einen anderen Kostenträger für die Behandlung finden, sagt Stähnz: „Grundsätzlich gilt aber: Viele Betroffene kennen ihre Rechte nicht.“

Kein Geld mehr für private Kassenbeiträge gehabt

Auch Detlef nutzt den Anonymen Krankenschein. Er hat es eigener Darstellung aufgegeben, sich mit „der Kasse rumzustreiten“. Der Erfurter ist längst Rentner und lebt seit mehr als einem Jahr ohne festen Wohnsitz in der Landeshauptstadt. Jahrelang selbstständig gewesen, habe er irgendwann die Beiträge für die private Krankenversicherung nicht mehr bezahlen können. Die Behandlung per anonymem Krankenschein stellt für ihn einen vergleichsweise einfachen Weg dar, einen behandelnden Arzt zu finden. Die Möglichkeit nutze er aber nur, wenn es wirklich sein müsse, beteuert er. „Ich will niemandem zur Last fallen.“

Dabei bräuchte er den AKST möglicherweise gar nicht in jedem Fall. Seit der Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherungspflicht im Jahr 2009 ist eine Kündigung durch den Versicherer, die zum vollständigen Verlust des Krankenversicherungsschutzes führen würde, grundsätzlich nicht mehr möglich. Laufen Beitragsschulden auf, kann der Leistungsanspruch lediglich deutlich eingeschränkt werden.

Gemäß Sozialgesetzbuch V sind gesetzlich krankenversicherte Menschen zwar prinzipiell noch versichert, können aber nur noch etwa Behandlungen bei akuten Erkrankungen und Schmerzen in Anspruch nehmen. Ähnliches gilt auch für die private Krankenversicherung. Oftmals werden die säumigen Versicherungsnehmer aber nicht auf diese Möglichkeiten hingewiesen.

Thüringen ist Vorreiter

Thüringen ist Vorreiter bei der Ausgabe von Anonymen Kranken- oder Behandlungsscheinen, aber längst nicht mehr das einzige Bundesland, das Betroffenen in identischer oder leicht abgewandelter Form Hilfe anbietet. Unterstützung dieser Art gibt es zum Beispiel auch durch Clearingstellen in Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin, die jedoch allesamt nur eine begrenzte Zahl von Behandlungen pro Jahr ermöglichen. In Sachsen, wo es diese Hilfe nur in Leipzig gibt, wurden 2023 rund 1.200 Behandlungen registriert.

Daneben weitverbreitet ist etwa auch das Modell einer direkten Hilfe über ehrenamtlich organisierte Sprechstunden. Ob mit oder ohne Krankenschein: Der Bedarf an solchen Angeboten ist flächendeckend hoch. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2019 zwar weniger als ein Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland ohne Krankenversicherungsschutz. Hochgerechnet auf heutige Zahlen entspricht das einer Versorgungslücke von 460.000 Personen.

Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Anonyme Behandlungsschein- und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherungsschutz (BACK) geht von Hunderttausenden Betroffenen in Deutschland aus, zumal etwa Obdachlose oder Rentner in der Regel gar nicht erwerbstätig, dafür aber überproportional häufig ohne Versicherungsschutz seien. Zwar habe die noch amtierende Bundesregierung laut Koalitionsvertrag für Menschen mit ungeklärtem Versicherungsstatus, wie insbesondere Wohnungslose, den Zugang zur Krankenversicherung im Sinne der Betroffenen klären wollen. Doch bewegt habe sich seit 2021 nichts, so die Kritik des Verbands. Vorerst bleiben die Modelle für die Behandlung von Menschen ohne Gesundheitsversorgung dauerhafte Notlösungen.

Matthias Thüsing