

Münster (epd). Menschen mit Behinderung dürfen nicht zum „Problem“ definiert werden. Das sagt die Sozialpädagogin und katholische Theologin, Sabine Schäper, mit Blick auf behinderte Minderjährige, die ihre Umgebung durch ein besonders auffälliges Sozialverhalten in schwierige Situationen bringen können. Es gelte „zu verstehen, welche innere Not hinter dem herausfordernden Verhalten liegt“. Mit der Professorin der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster sprach Markus Jantzer.
epd sozial: Frau Professorin Schäper, was ist für „herausfordernde Verhaltensweisen“ von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung kennzeichnend?
Sabine Schäper: Menschen verhalten sich in einer Weise, die andere als „herausfordernd“ erleben, wenn sie sich selbst subjektiv in einer herausfordernden Situation befinden. Etwa wenn ihre Bedürfnisse nachhaltig nicht berücksichtigt werden, wenn sie sich bedrängt fühlen durch strukturelle oder von anderen Personen ausgeübte Zwänge oder wenn sie sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befinden. Kinder und Jugendliche mit Behinderung erleben häufiger als andere solche Grenzsituationen, weil sie in stärker institutionalisierten Lebenswelten leben, weil sie in der Art, wie sie ihre Emotionen äußern, von anderen nicht verstanden werden oder weil sie selbst nicht verstehen, was um sie herum geschieht.
epd: Welche herausfordernden Verhaltensweisen kommen die vergleichsweise häufig vor?
Schäper: Bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen kommen von anderen als herausfordernd erlebte Verhaltensweisen häufiger vor. Dazu gehören Studien zufolge auffälliges Sozialverhalten, das Ausdruck emotionaler Not sein kann, wie Weinen, Schreien. Auch verbal aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, also Beleidigung und Drohung kommen vor, aber auch fremdaggressives Verhalten, das mit Verletzung anderer Personen oder auch der Zerstörung von Sachen einhergeht. Manchmal werden auch schlicht ungewöhnliche, manchmal originelle Verhaltensweisen, als „herausfordend“ bezeichnet, weil sie andere irritieren, etwa stereotype Wiederholungen von Bewegungsmustern.
epd: Eltern sowie Betreuerinnen und Betreuer sind besonders gefordert, wenn eine Person mit Behinderung sich häufig fremdaggressiv verhält. Wie reagieren in der Regel die Bezugspersonen auf solches Verhalten?
Schäper: Ein „in der Regel“ gibt es hier nicht, es sind immer zugespitzte Situationen, die hoch komplex und von vielen Bedingungen bestimmt sind. Manchmal ist sofort erkennbar, was ein problematisches Verhalten auslöst: eine der Person nicht hinreichend verstehbar gemachte, aber irritierende Veränderung, die Ablehnung eines dringenden Bedürfnisses, manchmal aber auch Schmerzen oder emotionale Belastungen, die nicht rechtzeitig erkannt werden. Eine besondere Schwierigkeit besteht dann, wenn der Anlass oder Auslöser nicht erkennbar ist. Je weniger in einer konkreten Situation klar ist, warum sich eine Person fremdaggressiv verhält, umso weniger adäquat kann eine Antwort darauf sein. Je hilfloser sich Betreuungspersonen fühlen, umso mehr greifen sie auf rigorose und begrenzende Situationen zurück. Sofern eine entsprechende Genehmigung vorliegt, werden mitunter freiheitsentziehende Maßnahmen angewandt.
epd: Wie können die Verantwortlichen intervenieren und dabei auch die Interessen und Bedürfnisse der Person, die fremdaggressiv reagiert, beachten?
Schäper: Die Berücksichtigung dieser Interessen ist schon der Schlüssel hin zu einer Lösung: Der Impuls, die Aggression gegen andere oder gegen Sachen zu richten, ist ja in der Regel Ausdruck einer inneren Not, aus der es keinen anderen Ausweg zu geben scheint. Also gilt es zu verstehen, welche innere Not hinter dem Verhalten liegt: Sind es gegebenenfalls tatsächlich unsichtbare körperliche Schmerzen, auf die jemand aufmerksam machen will? Sind die Verhaltensweisen Ausdruck eines bestimmten Willens, der nicht berücksichtigt wird? Ist die Person mit einer Anforderung, die an sie gestellt wird, überfordert? Fehlen ihr Möglichkeiten, sich zu artikulieren?
epd: Sind angesichts der aktuellen personellen Lage in Behinderteneinrichtungen überhaupt Reaktionen möglich, die nicht vor allem aus Sanktionen, Ausschlüssen und Fixierungen bestehen?
Schäper: Die Entwicklung einer Haltung des zugewandten Verstehens ist keine Frage der personellen Ressourcen, weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht. Selbstverständlich braucht es fachliches Wissen und methodisches Können, etwa im Bereich Unterstützter Kommunikation oder positiver Verhaltensunterstützung, um gemeinsam Alternativen zu herausfordernden selbst- und fremdgefährdenden Verhaltensweisen zu entwickeln. Das kann ein langwieriger Prozess sein, der aber auf lange Sicht wiederum ressourcenschonend ist, weil rigorose Reaktionen das Problem nur situativ begrenzen - und das gegebenenfalls unter Ausübung oder Inkaufnahme von Zwang -, statt es nachhaltig zu lösen.
epd: Welche wirksame Unterstützung für Familien herausfordernden Kindern ist angeraten?
Schäper: Das ist eine wichtige Frage. In der Tat fehlt es oft an leicht zugänglicher Unterstützung von Familien - sowohl in Bezug auf die adäquate Versorgung etwa mit pflegerischer Unterstützung oder mit Hilfsmitteln als auch in Bezug auf Beratungsangebote. Insbesondere Familien mit Migrationsgeschichte erleben die komplizierten administrativen Wege als Dschungel, in dem der Zugang zu Hilfen vielfach versperrt ist. Die neu installierte Funktion der Verfahrenslotsinnen und -lotsen, die im Jugendamt angesiedelt ist und Familien durch den Dschungel der unterschiedlichen Leistungsansprüche hindurch berät und begleitet, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Eine solche Funktion braucht es niederschwellig und flächendeckend. Zudem helfen eine frühe Unterstützung im Rahmen der Frühförderung, eine gute und wohnortnahe Versorgung mit Kita-Plätzen und eine bedarfsgerechte Beschulung. Bei psychischen Problemen oder Erkrankungen, die bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung auch vermehrt vorkommen, braucht es zudem niedrigschwellige Zugänge und entsprechende Fachkompetenzen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der psychotherapeutischen Versorgung. All diese präventiven Maßnahmen helfen, eine Eskalation von Verhaltensweisen zu verhindern.
epd: Ist eine dauerhaft wirksame Unterstützung angesichts limitierter öffentlicher Budgets überhaupt realistisch?
Schäper: Selbstverständlich ist sie das, wenn man nicht allzu kurzfristig denkt, sondern die langfristigen Effekte einer nachhaltig guten und frühzeitigen Unterstützung betrachtet. Zudem sollte sich der Gesellschaft im 21. Jahrhundert nicht die Frage stellen, ob eine adäquate Unterstützung realistisch ist - Menschen haben einen Rechtsanspruch auf eine teilhabeförderliche Begleitung und auf ein Aufwachsen in Sicherheit. Nur wenn wir die Bildungs- und Entwicklungschancen der nachwachsenden Generationen stärken, werden wir als Gesellschaft eine Zukunft haben. Es muss darum gehen, sicherzustellen, dass die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung selbstverständlich berücksichtigt werden, dass es Menschen gibt, die ihre Bedürfnisse verstehen und ihnen zur Durchsetzung verhelfen, und dass es ausreichend fachlich qualifiziertes Personal gibt, das sie in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Teilhabebedürfnissen unterstützt.
epd: Was sind Ihre dringendsten Empfehlungen, um die Situation für alle Beteiligten zu verbessern?
Schäper: Zunächst einmal muss das Thema sichtbar werden in einer Weise, die nicht die Menschen mit Behinderung als Problem etikettiert. Dieses Interview ist selbst ein wichtiger Beitrag dazu. Das Verstehen-Wollen und Verstehen-Können ist ein zentraler Anker für die gemeinsame Suche nach alternativen Verhaltensweisen, die die Person in die Lage versetzen, auf das herausfordernde Verhalten zu verzichten. Begleitende - Eltern wie professionelle Bezugspersonen - brauchen Beratung und Unterstützung, um diesen Verstehensprozess gemeinsam gehen zu können. Und sie brauchen die Sicherheit, in ihrer Hilflosigkeit selbst durch ein Netzwerk guter Begleitung getragen zu sein.