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Mindestlohn: Grenzlinie mit Lücken




Im vergangenen Jahr lag der Mindestlohn noch bei 12,41 Euro.
epd-bild/Heike Lyding
Für Beschäftigte im Niedriglohnsektor hat er große Bedeutung: Der gesetzliche Mindestlohn soll sie vor Armutslöhnen schützen. Doch die vor zehn Jahren eingeführte Lohnuntergrenze hat eine Schwäche: Arbeitgeber können sie umgehen, Betroffene nehmen das Lohndumping oft ohnmächtig hin.

Frankfurt a. M. (epd). Genau zehn Jahre ist es her, dass Deutschland den gesetzlichen Mindestlohn eingeführt hat. Er sichert die Entgelte der Beschäftigten in schlecht bezahlten Jobs nach unten ab. Damit sollten ab 1. Januar 2015 Niedriglöhne vermieden werden, mit denen Betroffene ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Deutschland vollzog damit nach vielen Jahren hitzigen Streits, was die meisten europäischen Länder bereits seit Jahren zum Schutz von Arbeitnehmern umgesetzt hatten.

Bei seiner Einführung im Jahr 2015 wurde der gesetzliche Mindestlohn auf 8,50 Euro pro Stunde festgelegt. Seither stieg der Mindestlohn über mehrere Stufen zum 1. Januar 2024 auf 12,41 Euro. Zum Jahreswechsel wird er auf 12,82 pro Stunde klettern. Neben dem gesetzlichen Mindestlohn, der grundsätzlich für alle Branchen und Regionen gilt, existieren auch höhere branchenspezifische Mindestlöhne.

Tarifpartner beraten in einer Kommission

Die Erhöhungen des Mindestlohns wird in der Regel auf Vorschlag einer ständigen Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) durch Rechtsverordnung der Bundesregierung festgelegt. Die Kommission wird alle fünf Jahre durch die Bundesregierung neu berufen. Sie besteht aus einem Vorsitzenden, je drei stimmberechtigten ständigen Mitgliedern der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite sowie zwei beratenden Mitgliedern aus der Wissenschaft ohne Stimmrecht. Grundsätzlich orientiert sich die Kommission an der Tarifentwicklung der letzten zwei Jahre.

Der Mindestlohn hat nach Auffassung des Tarifexperten des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Hagen Lesch, weder dem Arbeitsmarkt geschadet noch die Tarifautonomie beschädigt. „Das lag nicht zuletzt an der guten Arbeit der Mindestlohnkommission. Sie hat den Mindestlohn maßvoll angepasst“, sagte Lesch dem Evangelischen Pressedienst (epd). Mit der Anpassung zum 1. Januar 2025 sei der Mindestlohn in den vergangenen zehn Jahren insgesamt um mehr als 50 Prozent gestiegen, preisbereinigt um knapp 19 Prozent.

Das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen nennt den Mindestlohn in Deutschland eine „Erfolgsgeschichte“. Der Mindestlohn und seine Erhöhungen hätten im unteren Lohnsegment zu überdurchschnittlichen Steigerungen geführt. Profitiert hätten vor allem Beschäftigte in Ostdeutschland, in kleinen Betrieben, Personen ohne Berufsausbildung, Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen, befristet Beschäftigte und Arbeitskräfte in Branchen mit hohem Niedriglohnanteil wie das Gesundheits- und Sozialwesen, der Einzelhandel, das Gastgewerbe, unternehmensnahe Dienstleistungen sowie Taxi- und Kurierdienste.

Zahl der Verstöße ist unklar

Das Fachinstitut der Uni Duisburg-Essen übt allerdings auch Kritik: Der Mindestlohn werde bei „einem nicht unerheblichen Anteil der Beschäftigten nicht in vollem Umfang gezahlt“, wie mehrere Studien belegten. Bei wie vielen Beschäftigten gegen die gesetzliche Lohnuntergrenze verstoßen wird, ist unklar. Die Größenordnungen liegen hier bei den unterschiedlichen Studien zwischen 510.000 und 3,2 Millionen Beschäftigten - bei insgesamt rund sechs Millionen Menschen, die Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben.

Auch Johannes Seebauer, beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Experte für Arbeit und Beschäftigung, weist darauf hin, dass viele Beschäftigte den Mindestlohn nicht erhalten. Daher sollten nach seiner Auffassung mehr Kontrollen und eine verbesserte Arbeitszeiterfassung eingeführt werden. „Zu überlegen wäre ferner, ob sich Unternehmen, denen Mindestlohnunterschreitungen nachgewiesen wurden, auf öffentliche Aufträge bewerben dürfen“, bringt er eine Sanktionsmaßnahme ins Gespräch.

Stiftung zieht positive Bilanz

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung resümiert trotz Verstößen durch Arbeitgeber: „Nach zehn Jahren fällt die Bilanz des Mindestlohns positiv aus: Beschäftigte am unteren Ende der Lohnskala verdienen mehr, der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten ist zurückgegangen und die von Schwarzmalern befürchtete Massenarbeitslosigkeit ist nicht eingetreten“, sagt der Experte für Einkommensanalysen, Malte Lübker. Zugleich habe der Mindestlohn dazu beigetragen, das Lohngefälle zwischen Ost und West abzubauen und den Gender Pay Gap zu verringern.

Die Höhe des Mindestlohns von 12,82 Euro ab 2025 ist den Verteilungsexperten allerdings zu niedrig. Der Tariffachmann der Böckler-Stiftung, Thorsten Schulten, verweist darauf, dass der Abstand der gesetzlichen Lohnuntergrenze zum Durchschnittslohn nach der Europäischen Mindestlohnrichtlinie nicht zu weit sein sollte. Konkret heißt es dazu in der EU-Richtlinie: Er sollte nicht unter 60 Prozent des nationalen Medianlohns liegen. „In Deutschland würde dies einem Wert von mindestens 15 Euro entsprechen“, erklärt Schulten.

Außerdem appelliert er an Bundestag und Bundesregierung, „auch die zweite zentrale Anforderung der Mindestlohnrichtlinie umzusetzen. Diese verlange “einen wirksamen Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung„. Malte betont in diesem Zusammenhang: “Bei der Tarifbindung liegt Deutschland mittlerweile weit hinter wichtigen Nachbarländern zurück."

Markus Jantzer