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Experten: Ungleichheit kann die Demokratie bedrohen




Wer wenig Geld hat, ist oft besonders unzufrieden.
epd-bild/Norbert Neetz
Angesichts wachsender Armut und Verunsicherung warnen Experten vor Folgen für die Demokratie. Steigende Einkommen führen laut dem "Sozialbericht 2024" nicht bei allen Menschen zu Wohlstand. Im neuen Verteilungsbericht der Böckler-Stiftung heißt es, eine verantwortungsvolle Politik dürfe verschiedene Gruppen nicht "gegeneinander ausspielen".

Düsseldorf, Berlin (epd). Einkommensungleichheit und Verunsicherung sind unter den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland weiter auf dem Vormarsch. Zudem haben sich Sorgen um den eigenen Lebensstandard in den vergangenen Jahren in der Bevölkerung ausgebreitet, wie der am 4. November veröffentlichte Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ergibt. Dazu passt der am 6. November veröffentlichte „Sozialbericht 2024“. Demnach bleibt trotz steigender Reallöhne das Armutsrisiko hoch.

Die Daten zur Lebenslage der Böckler-Stiftung stützen sich unter anderem auf Befragungen von rund 4.000 Personen zwischen 2020 und 2023. Der Sozialbericht hingegen wird herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Zusammenarbeit mit dem Sozio-oekonomischen Panel. Er basiert auf aktuell verfügbaren statistischen Daten.

Kaum Änderung bei Vermögensverteilung

Demnach lebten 2022 etwa 15 Prozente der Haushalte unterhalb der Armutsrisikoschwelle. Für einen Ein-Personen-Haushalt lag sie bei rund 1.200 Euro Haushaltsnettoeinkommen im Monat und für einen Zwei-Personen-Haushalt mit einem Kind bei 2.160 Euro. In Ostdeutschland lag das Armutsrisiko mit 19,4 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.

Den Angaben nach wuchsen die Vermögen in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich. Sie seien weiterhin sehr ungleich verteilt, insbesondere zwischen Ost- und Westdeutschland, hieß es bei der Vorstellung des Berichts. Demnach besaßen ostdeutsche Haushalte 2021 im Durchschnitt ein Nettovermögen von 150.900 Euro im Vergleich zu 359.800 Euro im Westen. In den vergangenen zehn Jahren habe sich diese Lücke kaum geschlossen.

Die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland verfügten demnach 2021 über 56 Prozent des Gesamtvermögens. Deutschland zähle damit im europäischen Vergleich bei Ungleichheit zu den Spitzenreitern.

Sorgen um den Lebensstandard

Laut dem Verteilungsbericht der Böckler-Stiftung haben mehr als 50 Prozent der Menschen in der unteren Einkommenshälfte sowie knapp 47 Prozent in der oberen Mittelschicht im Jahr 2023 die Sorge, ihren Lebensstandard künftig nicht mehr halten zu können. Vor allem als Folge der Coronakrise und der hohen Inflation zwischen 2020 und 2023 habe sich die Sorge um die eigene wirtschaftliche Lage bei vielen Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein deutlich verschärft, stellt der Bericht fest.

Auch Armut und Ungleichheit in Deutschland erreichten laut Bericht zuletzt neue Höchststände. Laut den neuesten verfügbaren Zahlen lebten 2021 knapp 18 Prozent der Bürger in Armut, 11,3 Prozent sogar in strenger Armut, hieß es. 2010 lagen beide Quoten noch bei 14,2 und 7,8 Prozent. Als einkommensarm gelten Haushalte, deren Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. Das entspricht höchstens 1.350 Euro monatlich für einen Singlehaushalt. Von strenger Armut wird bei weniger als 50 Prozent oder 1.120 Euro monatlich gesprochen.

Überdurchschnittlich von Armut betroffen sind dem Bericht zufolge Arbeitslose und Menschen mit Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss. Vollzeitbeschäftigte gehören unterdessen überwiegend zur sogenannten Einkommensmitte.

Wachsende Sorge um die Demokratie

Immer mehr Menschen in Deutschland seien mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden, halten sowohl der Sozial- als auch der Verteilungsbericht fest. Allerdings vermerkt der Sozialreport, dass sich die Zustimmung zur Demokratie als Staatsform auf einem hohen Niveau halte. In Ostdeutschland allerdings sei die Unzufriedenheit besonders hoch. Dort sei weniger als die Hälfte der Bevölkerung mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden.

Laut Böckler-Studie gehe weniger als die Hälfte der Menschen mit geringen Einkommen davon aus, dass die Demokratie noch gut funktioniere, hieß es. In der unteren Mitte seien es dagegen 52 Prozent, in der oberen Mitte sogar fast 60 Prozent. Nur ein Fünftel der in Armut lebenden Menschen vertraut demnach auf das Rechtssystem.

Vor diesem Hintergrund warnen Dorothee Spannagel und Jan Brülle als Autoren des Verteilungsberichts vor einem Teufelskreis: Fehlender Wohlstand und Verunsicherung könnten dazu führen, dass immer mehr Menschen auf eine Teilhabe am politischen System verzichteten. Schon jetzt hielten mehr als ein Drittel der Geringverdiener und in Armut lebenden Menschen die Aussage „die regierenden Parteien betrügen das Volk“ für zutreffend, hieß es. Knapp 20 Prozent erklärten, bei der kommenden Bundestagswahl nicht wählen zu gehen. In der oberen Einkommensmitte liege dieser Anteil hingegen nur bei elf Prozent.

Eine „verantwortungsvolle Politik“ dürfe deshalb verschiedene Gruppen in der Gesellschaft nicht „gegeneinander ausspielen“, schreiben die Autorin und der Autor des Berichts. Als Beispiel wird etwa die jüngste Debatte um das Bürgergeld genannt. Bezieher von Bürgergeld seien darin „als faul und arbeitsunwillig“ hingestellt worden. Doch anstatt die „ohnehin zu knappen Leistungen“ weiter zu kürzen, um den Abstand zwischen Sozialleistungen und Erwerbseinkommen zu erhöhen, müssten vielmehr Niedriglöhne bekämpft und die Tarifbindung gestärkt werden, hieß es.

Migration eher Chance als Risiko

Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, warnte davor, die Themen Asyl und Flucht mit dem Thema innere Sicherheit zu vermischen. Deutschland werde wegen des Fachkräftemangels auf Zuwanderung angewiesen sein.

Zuwanderung könne die Folgen von Überalterung der Gesellschaft und Arbeitskräftemangel abmildern, heißt im Sozialreport. Menschen mit Einwanderungsgeschichte stellen mehr als ein Viertel der Erwerbstätigen. Laut Bericht hatten im vergangenen Jahr aber 44,1 Prozent der Eingewanderten und 27,1 Prozent der Nachkommen Eingewanderter keinen Berufsabschluss. Bei Menschen ohne Migrationsgeschichte lag dieser Prozentsatz bei 11,8.

Nora Frerichmann, Bettina Gabbe