Mannheim, München (epd). Angesichts des aktuell hohen Krankenstands fordern die Arbeitgeber die Abschaffung der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Eine Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sieht zwischen beidem aber keinen Zusammenhang. Ärztevertreter sprachen sich für den Beibehalt dieser Regelung aus. Die Bundesvorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Nicola Buhlinger-Göpfarth, nannte in der „Rheinischen Post“ (28. Oktober) die telefonische Krankschreibung „eine der ganz wenigen erfolgreichen politischen Maßnahmen zur Entbürokratisierung des Gesundheitswesens“.
Zuvor hatte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter, der „Rheinischen Post“ gesagt, er vermute Missbrauch bei der telefonischen Krankschreibung. Ungerechtfertigte Praktiken von digitalen Geschäftemachern müssten unterbunden werden. Auch Finanzminister Christian Lindner (FDP) hatte die telefonische Krankschreibung infrage gestellt.
Das ZEW publizierte am 28. Oktober eine Studie über die Ursachen des Anstiegs der Fehlzeiten, in der es zu anderen Schlussfolgerungen als Kampeter und Lindner kam. Denn demnach mehren sich auch Krankschreibungen zwischen 4 und 14 Tagen Dauer. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per Telefon gibt es aber nur für maximal fünf Kalendertage. Die Regelung war im Dezember 2023 dauerhaft eingeführt worden, nachdem sie während der Corona-Pandemie lediglich auf Zeit möglich war.
Der ZEW-Studie zufolge führt vor allem eine bessere Erfassung zu mehr gemeldeten Fehlzeiten. „Seit dem 1. Januar 2022 wurde mit dem Beginn der elektronischen AU-Bescheinigung (eAU) die Datenerfassung deutlich verbessert“, heißt es darin. Vorher seien viele Krankschreibungen den Krankenkassen schlicht nicht gemeldet worden und daher in der Statistik nicht aufgetaucht.
Neben diesem nur scheinbaren Anstieg gibt es laut der Studie es aber auch einen realen. „Seit der Corona-Pandemie sind viele Menschen offensichtlich vorsichtiger bei Infektionskrankheiten geworden, um andere nicht anzustecken“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Nicolas Ziebarth, Leiter des ZEW-Forschungsbereichs „Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen“ und einer der Autoren der Studie, dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Ziebarth schlug vor, Teilzeitkrankschreibungen als Arbeitnehmerrecht zu ermöglichen. Skandinavische Länder hätten mit solchen Modellen Fehlzeiten reduzieren können, sagte er: „Es ist ein veraltetes Schwarz-Weiß-Denken, dass man entweder arbeiten kann oder nicht.“ Teilzeitkrankschreibungen seien sicher nicht für alle Beschwerden oder in allen Berufen möglich. Bei manchen psychischen Krankheiten etwa seien Betroffene durchaus arbeitsfähig, allerdings weniger belastbar als sonst. „Auch bei manchen Rückenleiden wäre sicher denkbar, dass man nach Hause gehen darf, wenn es nicht mehr geht“, sagte der Forscher.
Er verwies darauf, dass Arbeitgeber Modelle mit Teilzeitkrankschreibungen schon heute in ihren Betrieben einführen könnten und appellierte an sie, dies zu tun. „Das können sie sofort machen“, sagte er. Es sei sinnvoll, dies nicht nur als Möglichkeit für Arbeitgeber, sondern auch als Recht für Arbeitnehmer einzuführen: „Das wird sicher nicht alles von Grund auf ändern, aber es wäre ein Baustein, um Fehltage zu reduzieren.“
Denkbar sind nach Ziebarths Worten auch Vereinbarungen, denen zufolge leicht erkrankte Arbeitnehmer auch im Homeoffice arbeiteten oder mit medizinischer Schutzmaske zur Arbeit kämen. Er räumte allerdings ein, dass dies ein schwieriger Grenzbereich sei, in dem Arbeitgeber ungerechtfertigten Druck auf ihre Angestellten ausüben könnten. „Das ginge nur mit beiderseitigem Einverständnis“, erklärte er.
Auch Ärztepräsident Klaus Reinhardt sprach sich für die Möglichkeit von Teilzeitkrankschreibungen aus. Eine „praktikable Form von Teilzeitkrankschreibung für einige Stunden täglich“ könne für mehr Flexibilität sorgen, sagte der Präsident der Bundesärztekammer den Zeitungen der Funke-Mediengruppe am 30. Oktober. Die Arbeitswelt habe sich durch Digitalisierung und Homeoffice verändert. Dennoch unterscheide das Gesundheitswesen weiter starr nach Arbeitsfähig- und -unfähigkeit.
Bei Bagatellinfekten etwa biete das Homeoffice unter Umständen die Möglichkeit für Arbeitnehmer, begrenzt berufliche Aufgaben wahrzunehmen, dabei den Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen im Büro zu vermeiden und sich dennoch zu erholen. „Klar ist natürlich, dass dabei das Wohlergehen und die ungefährdete Genesung der Erkrankten immer an erster Stelle stehen muss“, ergänzte der Präsident der Bundesärztekammer.
Eine Sprecherin von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) verteidigte die telefonische Krankschreibung, schloss aber zugleich nicht aus, dass Patienten sie ausnutzen. Sie verwies auf den Beschluss der Ampel-Koalition, die telefonische Krankschreibung im Rahmen ihrer Wachstumsinitiative für die Wirtschaft zu überprüfen und möglicherweise anzupassen, wenn dies „bürokratiearm“ möglich sei.
Die Hausärztevertreterin Buhlinger-Göpfarth sah keinen Zusammenhang zwischen mehr Fehlzeiten und telefonischer Krankschreibung. „Die Unterstellungen, dass sich die Menschen mithilfe der Telefon-AU einen schlanken Fuß machen, können wir aus unserer täglichen Arbeit nicht bestätigen“, sagte die Fachärztin für Allgemeinmedizin. Diese Möglichkeit jetzt abzuschaffen, wäre absurd, sagte sie.