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Ein Königreich für einen Kinderarzt




Untersuchung beim Kinderarzt
epd-bild/Christoph Böckheler
"Tut uns leid, wir nehmen keine neuen Patienten an." Diesen Satz hören Eltern auf der Suche nach einem Kinderarzt in ihren Wohnorten Ort immer öfter. Helfen können die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen - ein Blick nach Baden-Württemberg.

Pforzheim, Stuttgart (epd). Anna N. wägt gut ab, ob ihr dreijähriger Sohn wirklich zum Kinderarzt muss. Der Grund: Sie lebt ohne Auto in Pforzheim, ihr Kinderarzt hat seine aber in Ettlingen. „Ich frage mich dann, ob ich einem fiebernden Kind wirklich die zwei Stunden mit Öffis zumuten kann, oder ob es nicht auch ohne Arzt geht.“ Sie traue sich inzwischen zu, Kinderkrankheiten einschätzen zu können. Manchmal lasse sie sich telefonisch beraten. „Es bleibt aber ein Restzweifel. Nicht, dass ich einmal eine falsche Entscheidung treffe“, sagt die 33-Jährige.

Obwohl ihr Kinderarzt nicht direkt greifbar ist, ist Anna glücklich, dass es ihn gibt. „Ich hätte heulen können vor Freude, als ich endlich wieder einen Kinderarzt hatte.“ Ihr vorheriger Arzt sei im Sommer 2023 in den Ruhestand gegangen, danach wählte sich Anna die Finger wund. „Ich habe alle in Pforzheim angerufen und den Enzkreis bis ins hinterste Eck abgeklappert.“

Am Telefon werden Eltern zügig abgewimmelt

Anna ist mit ihren Erfahrungen kein Einzelfall. Pforzheimer Sprechstundenhilfen wirken bei Testanrufen, als seien sie darauf getrimmt, Eltern am Telefon zügig abzuwimmeln. Eine Karlsruher Praxis erklärt, sie hätte wegen Personalmangel einen Patientenannahme-Stopp. Von einem Lörracher Kinderarzt heißt es, er nehme nur noch Neugeborene an.

Die Stadt Stuttgart veröffentlichte eine Mitteilung, dass „die ambulante kinder- und jugendärztliche Versorgungslage in Stuttgart prekär ist“. Weil über ein Drittel der Stuttgarter Kinderärzte in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, werde sich die Situation noch weiter verschärfen, heißt es weiter. Die Stadt arbeite an Strategien, um Kinderärzte anzulocken. „Mit einem kommunalen Förderprogramm wollen wir die Arbeitsbedingungen für Kinderärztinnen und Kinderärzte in Stuttgart attraktiv gestalten und damit die ambulante Versorgungsstruktur für Kinder und Jugendliche verbessern“, sagt die Gesundheitsplanerin am Gesundheitsamt, Christina Cyppel. Dafür stünden insgesamt 260.000 Euro bereit.

Fördergelder für neue Praxen

Niederlassungswillige Kinder- und Jugendärzte können im Falle einer Neugründung einer Berufsausübungsgemeinschaft bis zu 80.000 Euro beantragen. Auch Anstellungen, Zweigpraxisgründungen, Praxisübernahmen und Fusionen sind förderfähig. Eine zusätzliche Förderung von 40.000 Euro können Ärztinnen und Ärzte erhalten, wenn sie sich in einem Stadtbezirk ohne bisherige pädiatrische Praxis niederlassen.

Und doch wird sich die Lage wohl noch verschärfen. Der Grund: die Altersstruktur der Ärzteschaft. Die Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) sind eindeutig: Im ersten Quartal 2024 waren 22 der insgesamt 65 tätigen Kinder- und Jugendmediziner in Stuttgart 60 Jahre alt und älter. Über ein Drittel der aktuell tätigen Ärztinnen und Ärzte werden also voraussichtlich in den nächsten fünf bis zehn Jahren in den Ruhestand gehen.

Auf change.org steht seit Mitte Oktober die Petition „Alarmstufe Rot: Wo sind unsere Kinderärzte?“ „Für zahlreiche Eltern aus den Kreisen Calw, Freudenstadt, Rottweil und weiteren angrenzenden Landkreisen ist es derzeit unmöglich, einen Kinderarzt zu finden“, heißt es darin. Die Praxen seien überlastet.

KVBW: Bedarfsplanung ist nur eine Rechengröße

Die KVBW sagt auf epd-Anfrage, dass keine Informationen vorliegen, wie viele Kinder keinen Kinderarzt haben. Allerdings hätten nur wenige Orte im Land einen Versorgungsgrad deutlich unter 100 Prozent. Das seien Biberach, Calw, Pforzheim und Rottweil. „Wir wissen jedoch, dass auch in Gebieten mit einem Versorgungsgrad über 100 Prozent Eltern keinen Kinderarzt finden“, sagt Pressereferentin Gabriele Kiunke-Schwarz. Bei der Bedarfsplanung handle es sich um eine rein rechnerische Größe, die Wahrnehmung vor Ort könne davon abweichen.

Der Berliner Kinderarzt Steffen Lüder hat einen Notruf in Form des Buches „Who cares? - Wie das Gesundheitssystem das Leben unserer Kinder gefährdet“ ausgesandt. Darin berichtet Lüder, wie an einem Tag zu seinen 23 angekündigten noch 122 weitere kranke Kinder in seine Praxis kamen.

„Eltern fehlt das Wissen über akute Krankheiten“

Er sieht verschiedene Gründe für die Engpässe: Ein Baustein sind Eltern, die wegen Bagatellen zum Mediziner gehen. „Gleichzeitig grassieren nach der Corona-Isolation die Atemwegsinfekte heftiger und die Zahl an chronischen Erkrankungen und Allergien nimmt seit Jahren zu“, analysiert er. Zudem habe sich die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen seit ihrer Einführung verdoppelt. „Das geht nicht zusammen“, sagte er dem Magazin „Focus“. Vielen Eltern fehle es an sozialem Wissen, erläutert Lüder: Viele Eltern wüssten nicht mehr, wann Kinder wirklich zum Arzt müssen und wann vielleicht auch einfach Bettruhe und warme oder kalte Wickel reichen. „Und die Notaufnahme beziehungsweise die Kinderrettungsstellen sind für akute, schwere Krankheitsfälle, nicht weil klein Peter einen Mückenstich hat“, so der Arzt.

Weitere Ursachen sind in seinen Augen Mediziner, die in Teilzeit beschäftigt sind, und immer mehr angestellte Ärzte: „Ein angestellter Arzt arbeitet seine Stunden ab, nicht zwingend die Warteschlange in der Praxis“, schreibt er. Weitere Themen sind zu wenige Studienplätze, ausführliche Dokumentationspflichten und Alltagsprobleme bei der Digitalisierung. „Das ist Zeit, die mir bei der Behandlung meiner Patienten fehlt“, so Lüder.

Leonie Mielke