Frankfurt a.M. (epd). Laborwerte, Röntgenbilder, Arztbriefe, Befunde, Medikationspläne, Impfausweis, der Mutterpass, das Untersuchungsheft für Kinder und das Zahnbonusheft: All das soll ab Januar nach und nach in der elektronischen Patientenakte (ePA) archiviert und damit für Kliniken und Arztpraxen schnell zugänglich werden. Doch ob die verpflichtend zu nutzende ePA ein Gewinn für die Patientenversorgung wird, hängt vor allem davon ab, wie gut sie technisch umgesetzt wird. Und davon, dass möglichst viele Versicherte diese lebenslange Dokumentensammlung tatsächlich nutzen, denn sie können die ePA auch einfach ablehnen.
Mit der ePA, an der 20 Jahre lang gearbeitet wurde, sollen die bisher in Praxen und Krankenhäusern abgelegten Patientendaten zusammengetragen und sicher auf deutschen Servern gespeichert werden: ein digitaler Quantensprung und das Ende der Zettelwirtschaft. Doch es gibt auch Kritik an dem ambitionierten Vorhaben. Denn erst die Zukunft wird zeigen, ob die sensiblen Daten wirklich sicher vor Hackern sind.
„Im Januar 2025 erhalten alle gesetzlich Krankenversicherte ohne deren Zutun eine ePA von ihrer Krankenkasse. Sie ermöglicht es ihnen und berechtigten Personen - wie ihren behandelnden Ärzten - ihre Gesundheitsdaten sicher zu verwalten“, teilte die AOK Rheinland mit. Zukünftig werde es auch möglich sein, die ePA bequem auf dem Smartphone einzusehen. Die Nutzung sei freiwillig, betont die Kasse: „Wer keine ePA wünsche, kann einfach widersprechen.“ (Opt-out-Verfahren)
Die Erwartungen von Gesundheitspolitikern, Medizinern und Forschenden an die Digitalreform sind groß. Neu ist die ePA nicht, es gibt sie bereits seit Juli 2021 auf freiwilliger Basis für Versicherte bei ihrer Krankenkasse. Doch weniger als ein Prozent der Versicherten nutzt sie bisher, wohl auch, weil das Verfahren als sehr bürokratisch gilt. Im Bundesgesundheitsministerium preist man die Vorteile des neuen Systems: „Statt einer Blattsammlung zu Hause oder einzelnen Befunden in den Softwaresystemen verschiedener Praxen stehen Ärztinnen und Ärzten sowie Versicherten die relevanten Informationen und Dokumente sicher und auf einen Blick zur Verfügung.“
Auf alle Befunde gebündelt zugreifen zu können und nicht Patientenunterlagen hinterhertelefonieren zu müssen, darin sieht der Landesvorsitzende des Bayerischen Hausärzteverbandes, Wolfgang Ritter, große Chancen für eine bessere Versorgung der Patienten. Gleichzeitig unterstreicht er, dass alles von einer guten Funktionalität der ePA abhängt. Er erinnert an die Startschwierigkeiten mit dem E-Rezept: „Zeitweilig hatten Praxen vielerorts mit Unterbrechungen der Telematikinfrastruktur zu kämpfen.“ Das habe oft einen Neustart des Praxissystems erforderlich gemacht - im durchgetakteten Praxisalltag führte das zu hohen Zeitverlusten.
Zudem sei beim Start des E-Rezeptes in den Praxen viel Beratungsarbeit zu leisten gewesen, weil die Patientinnen und Patienten über die Funktionalitäten nicht im Vorfeld aufgeklärt wurden. „Das darf sich nicht wiederholen, zumal die Einführung der ePA mitten in die Infektsaison fällt“, macht Ritter deutlich.
Die ePA, so die Hoffnung vieler Fachleute, soll die Patientenversorgung besser und sicherer machen, der Forschung im Gesundheitsbereich Schub geben und Bürokratie eindämmen. „Durch den schnellen Zugriff auf die Gesundheitsdaten können Ärztinnen, Apotheker und Pflegekräfte die Therapie besser auf Vorerkrankungen abstimmen oder einfacher Koexistenzen zwischen Krankheiten erkennen“, so die für die digitale Infrastruktur in Deutschland zuständige „gematik GmbH“.
Zunächst wird die digitale Akte vier bis sechs Wochen lang in Franken, Hamburg und in Teilen Nordrhein-Westfalens erprobt. Verlaufen die Tests reibungslos, soll der bundesweite „Roll-out“ erfolgen. Als Starttermin wird nach Informationen des Bundesministeriums für Gesundheit der 15. Februar 2025 angestrebt. Ab Anfang März 2025, so der Plan, wird sie deutschlandweit nutzbar.
Von Beginn an sind Medikationslisten, Arzt- und Befundberichte in der ePA einsehbar. Später kommen noch der digitale Medikationsprozess (ab Sommer 2025) und Laborbefunde (ab Anfang 2026) dazu - ein gewaltiges Unterfangen, denn es gibt 73 Millionen gesetzlich Versicherte. Die privaten Krankenversicherungen können ihren Versicherten ebenfalls eine ePA anbieten. Viele Anbieter bereiten das laut dem Bundesgesundheitsministerium gerade vor.
Ende September startete Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine breit angelegte Informationskampagne zur ePA als sogenannte Opt-out-Variante. Das heißt, alle gesetzlich Versicherten erhalten die ePA, es sei denn, sie widersprechen. „Damit machen wir die ePA massentauglich“, erklärte Lauterbach. Zusammen mit der Krankenhausreform werde die ePA die Gesundheitsversorgung stärker prägen als alle anderen von der aktuellen Bundesregierung angestoßenen Maßnahmen im Gesundheitswesen.
Immerhin: An der flächendeckenden Information der Bürgerinnen und Bürger rund hundert Tage vor dem anvisierten offiziellen Start scheint es nicht zu fehlen: Social-Media-Kanäle werden genutzt, es gibt Plakate und Flyer, einen durch Deutschland tourenden Infobus sowie Radio- und Fernsehspots.
Wichtig zu wissen ist auch, dass mit der ePA nicht alle Abläufe in der medizinischen Behandlung anders werden: „Die elektronische Patientenakte ersetzt nicht die Behandlungsdokumentation im Praxisverwaltungssystem“, teilt die Kassenärztliche Bundesvereinigung mit. Ärztinnen und Ärzte seien nach Gesetz und Berufsordnung verpflichtet, alle medizinisch relevanten Informationen für die Behandlung eines Patienten zeitnah in der Patientenakte festzuhalten - elektronisch oder auf Papier. Auch Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind zur Dokumentation der Behandlung verpflichtet: „An dieser Pflicht ändert sich mit der ePA nichts.“
Kritik an dem künftigen Speichersystem kommt unter anderem von Datenschützern. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber (SPD) monierte unter anderem den erforderlichen aktiven Widerspruch, wenn man die ePA nicht nutzen will. „Man wird nicht zum gläsernen Patienten, wenn man die ePA nutzt. Trotzdem hätte der Gesetzgeber Einschränkungen machen müssen, wenn es um besonders sensible Gesundheitsdaten geht wie Abtreibungen, HIV-Infektionen oder psychologische Gutachten. Diese sollten nicht automatisch gespeichert werden. Da bedarf es durchaus mehr Vertrauensbildung und das muss jetzt mit guter Kommunikation und mit klaren Regelungen nachgeholt werden“, sagte er der AOK Rheinland/Hamburg.
Fachleute warnen zudem, dass bestimmte gespeicherte Gesundheitsdaten zu Stigmatisierungen führen könnten, wie etwa Diagnosen von HIV, psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen. Zwar ließen sich diese Daten aus der ePA heraushalten. Dennoch könnten bestimmte Medikamente auf der Medikamentenliste Rückschlüsse auf diese Krankheiten zulassen.
Die Verbraucherzentrale Bundesverband befürchtet, dass es trotz hoher Sicherheitsstandards zu Datenlecks und Cyberangriffen kommen kann. So könnten sensible Gesundheitsdaten in falsche Hände geraten. Und, so die Organisation: „Die ePA braucht eine stabile technische Infrastruktur. Systemausfälle, technische Fehler oder eine langsame Internetverbindung können den Zugang zur ePA erschweren. Menschen ohne geeignetes Endgerät haben keinen eigenständigen Zugriff und Einblick in ihre eigene ePA.“ Zudem seien längst nicht alle Patientinnen und Patienten hinreichend technisch versiert, um die ePA effektiv zu nutzen.