Berlin (epd). Zur Begrenzung der Fluchtmigration nach Deutschland will die Bundesregierung Asylsuchende, für die nach der Dublin-Regelung ein anderer EU-Staat zuständig wäre, in einer Art Grenzverfahren festhalten und möglichst schnell dorthin zurückschicken. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) präsentierten am 10. September in Berlin ihren Vorschlag, nachdem ein zweites Gespräch der Regierungsmitglieder mit Vertretern der Union als größter Oppositionsfraktion ohne Verständigung beendet worden war.
CDU und CSU hatten pauschale Zurückweisungen an der Grenze gefordert, was die Regierung für nicht vereinbar mit europäischem Recht hält. Man könne von einer Bundesregierung nicht verlangen, dass sie sich offen in Widerspruch zum Recht begibt, sagte Buschmann. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hielt Zurückweisungen an den Grenzen hingegen für rechtens, wenn Deutschland wegen der hohen Zuwanderungszahlen eine Notlage erklärt.
In der Bundestags-Generaldebatte am 11. September kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, das Regierungsvorhaben auch ohne Unterstützung der Union umsetzen zu wollen. Das Ende der Verhandlungen sei eine „Theateraufführung“ der Union gewesen. Merz wies diesen Vorwurf als „infam“ zurück und bekräftigte die Forderung, „wenigstens auf Zeit die Zurückweisung aller Asylbewerber“ durchzusetzen. Dies sei rechtlich zulässig, praktisch möglich und politisch geboten, sagte er im Bundestag.
Faesers Vorschlag sieht vor, dass Menschen, die an einer deutschen Landgrenze ein Asylgesuch äußern, grenznah untergebracht werden, während das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein beschleunigtes Dublin-Verfahren betreibt - mit dem Ziel, die Person möglichst schnell ins zuständige Land zurückzuschicken. Faeser zufolge soll dieses Verfahren sowohl in „offenen“ Einrichtungen als auch durch ein Festhalten in Haft geschehen können. Zur Umsetzung brauche sie deswegen auch die Länder, sagte Faeser. Mit ihnen werde sie weitere Gespräche aufnehmen. Die Ministerin erklärte, dass die Verfahren auf diese Weise innerhalb von fünf Wochen abgeschlossen sein könnten.
Nach der Dublin-Regelung ist der Staat für das Asylverfahren zuständig, über den ein Antragsteller in die EU eingereist ist. Reist er in ein anderes Land weiter, kann er dorthin überstellt werden. In der Praxis finden aber wenig Überstellungen statt.
Amnesty International, die Diakonie Deutschland und 25 weitere Organisationen hatten die Bundesregierung vor Einschränkungen des Asylrechts gewarnt. In einem in Berlin veröffentlichten Appell heißt es, Vorschläge wie Zurückweisungen von Schutzsuchenden an deutschen Grenzen verstießen gegen europäisches Recht und menschenrechtliche Prinzipien: „Es gibt auch keine nationale Notlage, die ein Hinwegsetzen über diese Grundsätze rechtfertigen könnte.“
Seit dem Messerangriff eines mutmaßlichen Islamisten in Solingen im August mit drei Toten wird hitzig über die Asylpolitik gestritten. Die Union verlangte wiederholt Zurückweisungen von Flüchtlingen an den deutschen Grenzen. Der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städte- und Gemeindebund forderten eine Begrenzung der Migration. Der Präsident des Landkreistags, Reinhard Sager, sagte im Bayerischen Rundfunk (9. September), die Kommunen seien überfordert, es fehlten Unterkünfte und Personal.
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) hatte im Vorfeld des Treffens von Regierung und Union vor einer Eskalationsspirale in der Asyldebatte gewarnt. Es gelte, Defizite bei der Umsetzung differenziert zu diskutieren und sie zu beheben, anstatt Angst zu schüren, sagte der SVR-Vorsitzende Hans Vorländer am 9. September: „Der Ruf nach immer weiteren Gesetzesänderungen und -verschärfungen hilft nicht weiter, wenn die Umsetzung das Problem ist.“ Zudem werte ein auf Migrationsabwehr fokussierter Diskurs die Integrationsleistungen der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ab. Das könne Arbeitskräfte abschrecken und zu gesellschaftlicher Spaltung beitragen.
Würden unerfüllbare Erwartungen geschürt, drohe ein Vertrauensverlust bei Bürgerinnen und Bürgern, sagte Vorländer. Grenzkontrollen im Schengen-Raum seien enge Grenzen gesetzt. Zudem könnten sich Schleuser auf dauerhafte stationäre Kontrollen schnell einstellen. Kontrollbedingte Staus an den Grenzen verursachten hohe Kosten für die Wirtschaft.
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD), warf CDU und CSU einen „Überbietungswettbewerb an populistischen Scheinlösungen“ vor. Es habe sich gezeigt, dass die Union nicht bereit sei, an wirklich konstruktiven Lösungen mitzuarbeiten, sagte Alabali-Radovan am 11. September im Deutschlandfunk. Das sei ein „gefährliches Spiel“. Stimmungsmache gegen Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten werde billigend in Kauf genommen. Sie sei irritiert, wenn eine demokratische Opposition darauf poche, EU-Recht auszuhebeln oder infrage zu stellen.
Äußerungen von CSU-Chef Markus Söder, denen zufolge sich in vielen deutschen Städten die Einheimischen gar nicht mehr zu Hause fühlen würden, machen Alabali-Radovan nach eigenen Worten „fassungslos“. „Das sind rechtspopulistische Narrative, die wir sonst von der AfD kennen“, sagte die SPD-Politikerin. Ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland habe eine Einwanderungsgeschichte, die Unterteilung Söders in Deutsche und Nichtdeutsche sei doch „sehr fragwürdig“.
Polizeigewerkschafter haben keine großen Erwartungen an die angekündigte Ausweitung der Grenzkontrollen. „Der große Wurf ist das nicht“, sagte Heiko Teggatz, Vorsitzender der Bundespolizei-Gewerkschaft innerhalb der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), am 11. September im „Morgenecho“ auf WDR 5. Grundsätzlich könnten die Grenzkontrollen nach Einschätzung des Polizeigewerkschafters dabei helfen, ungeregelte Einwanderung zu verhindern. „Wir haben dann die Personalien der Menschen. Die kommen dann eben kontrolliert und nicht mehr, wie bisher, unkontrolliert ins Land.“ Die erkennungsdienstliche Behandlung an den Grenzen erleichtere eine spätere Rückführung.
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) für den Bereich Bundespolizei und Zoll, Andreas Roßkopf, sagte hingegen der „Frankfurter Rundschau“ (11. September), Deutschlands Grenze sei „angesichts ihrer Länge nicht lückenlos zu überwachen“. Bereits jetzt fehle es an Personal und Ausstattung. „Deutschland hat 3.800 Kilometer Grenze“, sagte der GdP-Vorsitzende. „Menschen, die Böses im Schilde führen, Terroristen, Islamisten, die unserem Rechtsstaat schaden wollen, werden sicher einen Weg finden, diese Kontrollen zu umgehen.“