Berlin (epd). Klamotten, Schuhe, Taschen - Iris Weber (Name geändert) hat schon immer gerne eingekauft. Dass sie ein ernstes Problem hat, hat sie erst sehr spät erkannt, vor etwa zwei Jahren. „Zu dieser Zeit kaufte ich sehr viel und bestellte auch immer mehr online, was ich sonst eigentlich nicht tue. Als einige Tage hintereinander ständig Pakete ankamen, sagte mein Mann zum Spaß: Das ist doch nicht mehr normal, du bist doch kaufsüchtig“, erinnert sich die 61-Jährige.
Der Satz, den ihr Mann im Scherz gesagt hatte, brachte sie zum Nachdenken. „Ich habe auch Dinge gekauft, die ich eigentlich nicht benötigte. Oft hatte ich danach ein schlechtes Gewissen oder gar schlaflose Nächte“, sagt die Verwaltungsangestellte. Auch bei Freunden und Bekannten blieb ihr exzessiver Konsum nicht unerkannt. „Ich wurde darauf angesprochen, aber nahm das nie wirklich ernst“, sagt die Berlinerin.
Kaufsucht sei ein schambehaftetes Thema. Heute wissen allerdings ihre Freunde und auch Teile ihrer Familie von ihrer Sucht. An ihrem Arbeitsplatz sieht es jedoch anders aus. Damit das so bleibt, möchte sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen.
Vor zwei Jahren traf Weber dann die Entscheidung, etwas gegen ihre Sucht zu unternehmen. Zunächst besuchte sie eine begleitete Gruppe der Caritas, die sich an Kaufsüchtige richtet. Seit einem Jahr ist sie in der Selbsthilfegruppe des Cafés „Lost in Space“, einem Angebot der Caritas Berlin.
Die Treffen, die alle zwei Wochen stattfinden, helfen ihr, sagt Weber. „Am Anfang berichtet man, wie es einem geht und wie stark der Kaufdruck ist. Wenn man neu ist, beschreibt man auch kurz, welche Art von Kaufsucht man hat“, berichtet sie.
Bei einigen in ihrer Gruppe, gerade bei den Jüngeren, spiele sich die Kaufsucht primär im Internet ab. „Ich denke, das ist auch eine Generationenfrage. Bei mir ist Onlineshopping eher die Ausnahme“, sagt Weber. Ihre Sucht spiele sich vorwiegend in Läden ab. „Wenn ich mich gut beraten fühle, lasse ich mich zu Sachen hinreißen und kann dann schlecht Nein sagen.“
Weber ist nicht allein mit ihrer Kaufsucht. Schätzungen von Experten der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zufolge haben rund fünf Prozent der Deutschen eine pathologische Kaufsucht. Das heißt: Sie haben ein unkontrollierbares Verlangen, etwas zu kaufen, selbst wenn sie die Waren nicht benötigen. Häufig sind Frauen und jüngere Konsumenten betroffen.
Renanto Poespodihardjo ist Experte für Verhaltenssüchte. Als leitender Psychologe im Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel behandelt er seit Jahren Menschen mit Kaufsucht. Er sagt: „Betroffene versuchen, negative Gefühle in positive umzuwandeln. Shopping kann sogar eine Art Rausch auslösen und von Selbstzweifeln und negativen Empfindungen ablenken.“
Krankhaften Konsum zu erkennen, ist laut Poespodihardjo nicht einfach. „Ein zentrales Symptom einer Sucht ist der Kontrollverlust. Das heißt, der Betroffene will aufhören, kann es aber nicht.“ Hinzu komme die Gefahr der Verschuldung als Folge der Sucht.
Auch Iris Weber bekommt die finanziellen Folgen ihrer Kaufsucht zu spüren. „Ich habe mein Konto immer wieder ausgereizt. Ich lebe über meine Verhältnisse“, sagt sie. Sorge bereite ihr das vor allem mit Blick aufs Alter. „Ich gehe in ein paar Jahren in den Ruhestand und möchte dieses Problem bis dahin in den Griff bekommen haben.“
Woher ihre Sucht kommt? „Teilweise durch meine Eltern. Mein Vater hat immer sehr viel eingekauft, gerade was Kleidung betrifft“, erinnert sie sich. Doch auch andere Faktoren in ihrer Kindheit hätten eine Rolle gespielt. „Mir wurden nie Grenzen gesetzt. Ich hatte oft den Eindruck, dass Liebe und Wärme in meiner Familie durch den Kauf von Dingen ausgeglichen werden. Mir fehlten oft Umarmungen und emotionale Nähe. Ich assoziiere kaufen mit Liebe. Das ist etwas, was ich mir selbst schenke.“
Auch ihre immer wiederkehrenden depressiven Phasen, aufgrund derer sie in therapeutischer Behandlung ist, würden die Kaufsucht verstärken. „Rückblickend muss ich sagen, dass ich in diesen Phasen immer mehr gekauft habe. Wenn es mir schlecht geht, versuche ich mir mit dem Kaufen etwas Gutes zu tun.“ Auch habe Stress auf der Arbeit ihre Kaufsucht oft verstärkt. „Da war dann immer der Gedanke: Das habe ich mir jetzt zum Ausgleich verdient“, sagt sie.
Weber habe erst sehr spät ein Bewusstsein dafür entwickelt, mit Geld umzugehen. „Ich schreibe zwar mittlerweile einen Haushaltsplan, aber dort erfasse ich immer erst im Nachhinein die Kosten. Mir selbst ein fixes Budget vorzugeben und das dann auch einzuhalten, ist sicherlich etwas, was ich in Zukunft angehen möchte“, sagt sie.
In ihrer Selbsthilfegruppe gibt es Mitglieder, die zur Eindämmung ihrer Kaufsucht zu drastischen Mitteln greifen. „Manche geben ihre Kreditkarte in die Hände ihres Partners oder ihrer Partnerin, damit sie gar nicht erst in Versuchung kommen.“ Das komme für sie nicht infrage, auch weil sie in ihrer ersten Ehe negative Erfahrungen gemacht hat. „Ich habe mich von meinem Ex-Mann finanziell oft bevormundet und eingeengt gefühlt. Das war auch ein Treiber für meine Sucht“, erklärt sie.
So ganz wolle sie ihre finanzielle Unabhängigkeit nicht aufgeben. „Ich möchte meine Freiheit beibehalten und mich nicht in ein Korsett zwingen lassen“, betont sie. Die Treffen der Selbsthilfegruppe will sie weiterhin besuchen und an ihrer Kaufsucht arbeiten. Ihr Ziel ist es, nicht mehr ins Minus zu kommen.