Nürnberg (epd). Sie werden komplett übersehen. Kinder dürfen kaum Kontakt zu ihren Müttern und Vätern haben, wenn die Eltern im Gefängnis sind. Kein Wunder, dass rund 75 Prozent der betroffenen Mädchen und Jungen unter erheblichen psychischen und physischen Problemen leiden. Das zeigte bereits das EU-Forschungsprojekt „COPING“ im Jahr 2012 - neuere Studien gibt es nicht. Zwei Drittel der Kinder von Häftlingen reagieren auf die belastende Situation mit mangelndem Selbstvertrauen und Rückzug, klagen unter Schlafproblemen, Bauch- und Kopfschmerzen oder leiden unter Entwicklungsverzögerungen.
Auch mit dem Geheimnis, dass ein Elternteil in Haft sitzt, kommen die Kleinen oft nur sehr schwer zurecht und quälen sich mit der Stigmatisierung durch die Freunde, Mitschüler, Bekannte oder Lehrer. Doch das traurige Schicksal der Kinder von Inhaftierten wird von der Gesellschaft und vor allem in vielen Justizvollzugsanstalten häufig noch ignoriert. Beispielsweise werden Besuchszeiten am Vormittag angeboten, wenn die Kinder und Jugendlichen in der Schule sind. Oder es gibt nur die Option, die inhaftierten Eltern während der Regelbesuche hinter einer Glastrennwand zu sehen ohne die Möglichkeit, sie zu umarmen oder zu küssen.
Hilde Kugler arbeitet daran, das zu ändern. Die Leiterin von „Treffpunkt e. V.“ in Nürnberg hat das Netzwerk „Kinder von Inhaftierten“ aufgebaut. Denn in ihren mehr als 30 Jahren Angehörigenarbeit hat sie immer wieder miterlebt, wie für Kinder eine Welt zusammenbrach, wenn der Vater oder die Mutter ins Gefängnis musste. Mädchen und Jungen, deren Alltag von heute auf morgen komplett auf den Kopf gestellt wird - sei es, weil ihre mit Haushalt, Kindern und Finanzen alleingelassene Mutter verzweifelt, im Kindergarten niemand vom Papi oder der Mami im Gefängnis erfahren darf oder weil die Kids das Gefühl haben, mit niemandem über ihre Ängste, Trauer und Sorgen sprechen zu können.
Seit zwei Jahren ist Kugler auch Kopf eines länderübergreifenden Projekts in Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen, um zum Wohle der Kids eine bessere Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe, Justiz, Schulen und allen weiteren beteiligten Akteuren anzuschieben. „Wir haben die JVAs bei der Einführung und Fortführung eines familienorientierten Vollzuges unterstützt, indem sie zum Beispiel Vater-Kind-Gruppen installiert und kindgerechte Familien-Besuchs-Räume mit Spielzeug eingerichtet haben“, berichtet sie. Außerdem gab es Fortbildungen für die JVA-Fachkräfte sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe.
Judith Feige, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte, sagt: „Während zum Beispiel einige Haftanstalten Kontakte über Telefon und Internet großzügig handhaben, rechnen andere Videokommunikation auf die Besuchszeiten an. Zusammenfassend kann man sagen, dass es noch ein weiter Weg ist, bis in Deutschland jedes betroffene Kind die Möglichkeit hat, den Kontakt zum inhaftierten Elternteil auf eine Weise aufrechtzuerhalten, die den Kinder- und Menschenrechten entspricht.“
Es brauche dringend ein Umdenken, fordert Kugler. Denn die UN-Kinderrechtskonvention hält unter Artikel 9 fest, dass jedem Kind eine regelmäßige, persönliche Beziehung und der unmittelbare Kontakt zu beiden Elternteilen zugesichert wird - sofern dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht. Deshalb fordert der UN-Ausschuss Kinderrechte häufigere Besuchszeiten und einheitliche Standards, die ausreichend Angebote und Unterstützung für Kinder und Eltern sicherstellen.
„Ein weiteres Manko ist, dass es keine ordentliche Datenerhebung der betroffenen Familien gibt“, kritisiert Kugler. Die Zahl von jährlich 100.000 Kindern von Inhaftierten ist daher nur sehr grob geschätzt und unterstreicht ein großes Problem ihrer Arbeit. Bei der Inhaftierung wird nämlich nicht automatisch gefragt, ob der oder die Gefangene leibliche Kinder hat, in einer Patchwork-Beziehung lebt oder eine soziale Elternschaft besteht. So wissen Sozialarbeiter, Jugendamt-Mitarbeiterinnen, Lehrerinnen oder Gemeinde-Netzwerker oft überhaupt nicht, ob sie eventuell aktiv werden sollten, um Kinder oder betroffene Familienangehörige zu unterstützen.
Der erste Besuchstermin im Gefängnis heißt für viele Kinder: Angst. Hinein in die mit Maschendraht gesicherten hohen Mauern, Kontrollen, der gruselige Gang durch schwere Türen und Schleusen. Und wenn die Kinder dann endlich den Vater oder die Mutter wiedersehen, ist es eventuell nicht das größte Glück, sondern ein weiteres Trauma. Denn der geliebte Mensch sitzt da vielleicht in Handschellen und unerreichbar hinter einer Glaswand.
Stephanie Schmidt von Treffpunkt e. V., die die Vater-Kind-Gruppen in der JVA Nürnberg betreut, holt alle zwei Wochen acht Kinder vor dem Gefängnis ab, wohin sie meist von ihren Müttern gebracht werden. Anschließend begleitet sie die Kinder in den Familienraum der JVA - ein in warmes Sonnengelb getauchtes Zimmer, das mit seiner Spielecke und dem Plakat von Juki fast gemütlich wirkt. Juki ist das Zebra-Maskottchen von Treffpunkt e. V. und soll mit seinen Streifen eine liebevolle Anspielung auf die frühere Gefängniskleidung sein.
Aber die meisten Kinder wissen davon nichts. Ihnen ist in diesem Augenblick viel wichtiger, ihren Vater in die Arme zu schließen und mit ihm zu reden. Wenn auch nur für zwei sehr kurze Stunden. Danach heißt es für alle Kinder und Jugendlichen wieder, tränenreich Abschied zu nehmen.
So wie Besuche in der Nürnberger JVA ablaufen, sind sie immer noch eine Seltenheit. Denn der Strafvollzug in Deutschland ist nach wie vor Sache der Bundesländer, und so haben die Vollzugsanstalten ihre jeweils eigenen Regeln. Für Hilde Kugler ist das ein Unding. Problematischer findet sie aber die Tatsache, dass die 559 Jugendämter in Deutschland in komplett unterschiedlicher Weise Unterstützungsangebote gewähren und finanzieren: „Dabei wäre doch eine Chancengleichheit für alle Kinder von Inhaftierten wichtig - egal, wo sie in Deutschland wohnen.“