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Gesundheit

Die Ursachen für Pflegebedürftigkeit sind oft vermeidbar




Bewohner des Altenpflegeheims "An den Platanen - Mission Leben" in Neu-Isenburg
epd-bild/Tim Wegner
Pflegebedürftigkeit ist nicht unbedingt ein Schicksal, sondern lässt sich verhindern oder zumindest verzögern. Ähnlich wie bei Herzinfarkt oder Schlaganfall gibt es Risikofaktoren, die man vermeiden kann. Aber kaum jemand spricht über Prävention.

Frankfurt a.M. (epd). Als Statistiken der Pflegekassen von Ende Mai zufolge die Zahl der Pflegebedürftigen im vergangenen Jahr um 360.000 Personen gestiegen ist anstatt der erwarteten 50.000, war auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) überrascht: „Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau“, sagte er.

Aber selbst der jüngste starke Anstieg dürfte nur ein Vorgeschmack sein. Aktuell gibt es gut fünf Millionen Pflegebedürftige, 2055 werden es 6,8 Millionen sein, sagt das Statistische Bundesamt. Um sie zu versorgen, bräuchte es 2,2 Millionen Pflegekräfte. Aktuell sind es 1,7 Millionen, und die reichen bereits jetzt nicht.

Vorbeugung findet kaum Beachtung

Da ist es eigentlich unverständlich, warum ein offensichtlicher Weg, diesen Notstand zu vermeiden oder abzumildern, in der öffentlichen Diskussion kaum Beachtung findet - nämlich zu verhindern, dass Menschen pflegebedürftig werden.

Denn Pflegebedürftigkeit ist nicht immer Schicksal. Ihre Ursachen sind oft Demenz oder Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Schlaganfall oder Herzerkrankungen. Deren Ursachen wiederum sind oft vermeidbar, es sind Nikotin- und Alkoholkonsum, Fehl- und Überernährung sowie zu wenig Bewegung.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärt dazu: „Die Quote vermeidbarer Erkrankungen ist in Deutschland höher als in vielen anderen europäischen Ländern. Denn in Deutschland wird besonders ungesund gegessen, besonders viel Zucker konsumiert, besonders häufig das Auto statt der eigenen Füße oder des Fahrrads genutzt und besonders viel geraucht und Alkohol getrunken.“

Kaum Verhältnisprävention

Das Präventionsgesetz von 2015 erklärt Prävention von häufigen und kostenintensiven Krankheiten wie etwa Diabetes zu Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Konkrete Angebote betreffen aber meist nur die Verhaltensprävention, etwa Kurse, die zu mehr Bewegung oder weniger Suchtmittelkonsum anhalten sollen. Verhältnisprävention, also die Veränderung von Rahmenbedingungen, gibt es dagegen kaum.

Das bedauert auch die DKG. „Wer den Pflegekräftemangel lösen will, muss die Raucherquote senken, den Zuckergehalt in Softdrinks reduzieren und Fahrradwege bauen“, fordert sie.

Eine weitere häufige Ursache sind Stürze. Im höheren Alter sind sie folgenschwerer als im jüngeren. Wenn ältere Menschen sich bei einem Sturz den Oberschenkelhals brechen, sind sie danach oft auf Dauer bettlägerig. Eine Mobilitätsförderung, die Senioren gangsicherer macht, wirkt Stürzen entgegen. Wichtig ist hier auch eine barrierefreie Lebenswelt.

Nur wenige Zahlen

Aber daran hapert es. Zwar bekommen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen Geld von den Pflegekassen, wenn sie ihr Bad altersgerecht umbauen oder einen Handlauf im Flur installieren lassen. Aber eine Auswertung des Sozialverbands VdK vom Februar 2023 zeigt: Nur rund 85 Prozent der Berechtigten riefen diese Fördermittel auch ab.

Es gibt kaum belastbare Zahlen dazu, um wie viel die Zahl der Pflegebedürftigen sinken könnte und wie viele Pflegekräfte man weniger bräuchte, würde man konsequent auf allen Ebenen vorbeugen. „Das Problem an der Prävention ist das Präventionsparadox“, sagt Stefan Werner, Vizepräsident des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe. Die Kosten für die Prävention seien stets sichtbar, aber nicht, was sie leiste. „Wenn ich präventiv tätig werde, kann ich ja nie beweisen, wie schlecht es einer Person ohne diese Prävention gehen würde und welche Kosten damit verbunden wären“, erklärt er.

Aber einige Zahlen, die in eine bestimmte Richtung weisen, gibt es doch. Eine Studie aus Österreich kommt zu dem Schluss, dass gut ein Drittel der Ursachen für Demenz prinzipiell vermeidbar sind. Demenz ist der häufigste Grund für Pflegebedürftigkeit.

An bestehende Strukturen anknüpfen

Ob man mit Prävention Pflegebedürftigkeit komplett verhindern kann, ist nach den Worten Stefan Werners „gar nicht die primäre Frage“. Wenn es gelänge, eine Verschlimmerung zu verhindern oder zu verzögern, würde das schon die Sozialsysteme, die Pflegefachkräfte und Angehörige entlasten.

Aber selbst bis dahin sei der Weg noch weit, sagt er. „In vielen Gesetzen steht, dass die Pflege rehabilitativ sein soll. Aber für Sturzprävention in der Tagespflege, gesunde Ernährung oder Mobilitätsförderung haben wir weder die Zeit noch das Budget.“ Mehr Prävention würde ihm zufolge auch den Pflegeberuf attraktiver machen, weil die Fachkräfte mehr Erfolge ihrer Arbeit sehen könnten.

„Alle Dinge, die an bestehende Strukturen anknüpfen, kann man schnell umsetzen“, empfiehlt der Experte. Bei einem Pflegegrad seien zum Beispiel Beratungsgespräche verpflichtend. Berater müssten entsprechend geschult werden, damit sie in diesen Gesprächen Präventionsbedarfe erkennen könnten, fordert Werner. Früher habe eine Gemeindekrankenschwester bei Hausbesuchen immer ein Auge auf Vorbeugung gehabt. Heute gebe es zwar das Modell der „Community Health Nurse“. „Die wird aber nur von wenigen Krankenkassen finanziert“, sagt Werner.

Nils Sandrisser


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