In diesem Sommer soll ein Referentenentwurf zur dritten Stufe der inklusiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe - SGB VIII - vorgelegt werden. Vor diesem Hintergrund möchte das Bundesjugendkuratorium mit diesem offenen Brief alle politisch Verantwortlichen in der Bundes- und Landespolitik, aber auch die Fachöffentlichkeit dazu aufrufen, die gesetzlichen Grundlagen für eine Verwaltungs- und Organisationsreform der Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen. Es gilt die politischen und infrastrukturellen Voraussetzungen zu erfüllen, damit eine inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in den kommenden Jahren möglich werden kann.
Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) wurde die Kinder- und Jugendhilfe bereits 2021 auf eine inklusive Öffnung hin ausgerichtet und auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung eine inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe angekündigt. Damit wurden die Weichen gestellt. Nunmehr müssen die rechtlichen, organisationalen und verwaltungsbezogenen Grundlagen geschaffen werden, damit dieser Weg nicht zu einer Sackgasse wird.
Wenn jetzt der nächste Schritt nicht erfolgt, werden nicht nur die Sozial- und Jugend- sowie Landesjugendämter, die sich bereits auf den Weg gemacht haben, dem Auftrag des KJSG sowie der Ankündigung des Koalitionsvertrages gefolgt sind, auf Dauer vor Verwaltungshürden gestellt, sondern auch diejenigen, die abgewartet haben. Denn die Herausforderung, die Eingliederungshilfe für junge Menschen und ihre Familien sowie die Kinder- und Jugendhilfe organisational zu reformieren, steht auf der Agenda. Ein „weiter so“ - wie es jetzt ist - wird es nicht geben können.
In jedem Fall muss die Eingliederungshilfe für junge Menschen beispielsweise sich fachlich partizipativ weiter gegenüber jungen Menschen in den Verfahren öffnen, dies sehen nicht nur die UN-Konventionen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) und Kinderrechte (UN-KRK), sondern auch die geltenden sozialrechtlichen Bestimmungen in Deutschland vor. Auch die Kinder- und Jugendhilfe wird sich organisational damit auseinandersetzen müssen, wie sie zukünftig junge Menschen mit Behinderungen zum Beispiel im Kinderschutz besser erreicht und neu mit der Eingliederungshilfe kooperiert. Weitere Beispiele für einen Handlungsbedarf können ohne Weiteres genannt werden.
Das Bundesjugendkuratorium hat im Frühjahr 2024 fachliche Koordinaten formuliert, um auch die Fachdiskussionen auf ihrem Weg in die Richtung einer inklusiven rechtebasierten Kinder- und Jugendhilfe weiter zu bestärken und zum Beispiel Kinder- und Jugendhilfeplanungsprozesse vor Ort zu ermuntern, sich partizipativ und inklusiv zu öffnen. Es sind die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, mit denen die Jugendämter vor Ort und die Landesjugendämter und -behörden inklusive Angebote in der Kinder- und Jugendhilfe gestalten können. Es wäre ratsam diese Grundlage so anzulegen, dass die Aufgaben für die Jugendämter und freien Träger organisational umsetzbar sind, junge Menschen und ihre Familien ihre Rechte transparent wahrnehmen können und mehr beteiligt werden sowie nicht weiter Doppelstrukturen und Übergangslösungen existieren oder gar neue geschaffen werden.
Die Diskussionen um die inklusive Öffnung begleiten die Kinder- und Jugendhilfe seit den 1980er Jahren. Damals konnten sich die Verantwortlichen nur zu einer sogenannten kleinen Lösung mit dem § 35a im SGB VIII durchringen. Dieser Kompromiss hat in den Folgejahren zu verwaltungs- und organisationsbezogenen Ambivalenzen in Jugend- und Landesjugendämtern sowie den zuständigen Sozialbehörden geführt. Er hat die Diskussionen um eine weiterführende inklusive „Lösung“ nicht beenden können. Seither schwelt die Fachdiskussion um eine weitergehende Sozialverwaltungsreform, die in unterschiedlichen Kinder- und Jugendberichten der Bundesregierungen angemahnt und immer wieder auch vom Bundesjugendkuratorium empfohlen wurde.
Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode einen umfassenden Dialogprozess durchgeführt und die unterschiedlichen Positionen gesammelt und ausgetauscht. Die Dokumentation hierzu wurde Anfang Juli 2024 veröffentlicht. Erstmals wurden auch Selbstvertretungen in einer eigenen Säule in diesem Prozess einbezogen sowie ein wissenschaftliches Kuratorium eingesetzt. Viele Bürgerinnen und Bürger, Fachverbände, politische Gremien sowie Kommunal- und Landesvertretungen haben in diese Prozesse in den letzten Jahren Zeit investiert und die unterschiedlichen Vorschläge und Verfahrenswege ausgelotet. Die Beteiligung der Selbstvertretungen hat gezeigt, wie weiterführend die Hinweise aus diesen Organisationsformen sind, aber auch, dass die Kinder- und Jugendhilfe bis in die Ministerien hinein, noch am Anfang steht, Selbstvertretungen wirklich strukturell zu beteiligen. Entsprechend sollten die zukünftigen gesetzlichen Regelungen, die Beteiligung von Selbstvertretungen mehr absichern.
Insgesamt hat das jahrelange Warten aber auch dazu geführt, dass viele Übergangsformen und Zwischenlösungen existieren und Angebote nicht den aktuellen Bedarfen und dem internationalen Recht zum Beispiel der UNBRK und UN-KRK entsprechend angepasst werden. Modellprojekte - wie „Inklusion jetzt!“ - zeigen, wie inklusive Angebote gestaltet werden können und welche organisationalen Bedingungen notwendig sind. In der Kindertagesbetreuung findet sich vielerorts bereits eine inklusive Wirklichkeit - dies ist auszubauen.
Die hohen Anforderungen, die gleichzeitig gegenwärtig unzweifelhaft auf den Jugendämtern und freien Trägern liegen, müssen bei der Reform Berücksichtigung finden und zum Beispiel durch Qualifizierungsprogramme, organisationale und nachhaltige Beratungsprozesse und Fachkräfteprogramme begleitet werden. Am Ende darf nicht die Qualität der Hilfen für die jungen Menschen sowie ihre Familien während der Reform beeinträchtigt werden. Hier ist es sicherlich ein wichtiger Schritt, die Verfahrenslotsen weiter gesetzlich zu verankern.
In den fachlichen Koordinaten hat das Bundesjugendkuratorium ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Fachdiskussionen, die eine Überforderung der Kinder- und Jugendhilfe anmahnen, nur dann produktiv sind, wenn Bund, Länder und Kommunen daran arbeiten, wie eine resiliente Kinder- und Jugendhilfe organisiert werden kann. Diese Aufgabe ist politisch ernster zu nehmen, als es bisher geschieht. Dabei geht es selbstverständlich auch um Ressourcen, die weniger unmittelbar als vielmehr in einem längerfristigen Stärkungsprozess der Kinder- und Jugendhilfe investiert werden müssen, um die Infrastruktur langfristig effizient, niedrigschwellig und bedarfsorientiert auszugestalten.
Die Kinder- und Jugendhilfe ist heute zu der Dienstleistungsinfrastruktur für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sowie für Familien vor Ort in den Kommunen und Städten geworden und der koordinierende Motor im institutionellen Gefüge des Aufwachsens für alle jungen Menschen vor Ort. Dies erfordert vor allem eine politische Aufmerksamkeit, die erkennt, dass es viel mehr Ressourcen langfristig kostet, wenn Infrastrukturen nicht funktionieren und Not- und Übergangslösungen Bedarfe nur ausbalancieren können.
Das Bundesjugendkuratorium fordert darum die Bundes- und Landesregierungen und -parlamente sowie alle Beteiligten in den kommenden Monaten auf, den Weg für eine inklusive, die Rechte der jungen Menschen und Familien stärkende Reform des SGB VIII frei zu machen und schnellstmöglich ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden. Auf dieser Grundlage muss dann miteinander konkret und zeitlich realistisch verhandelt werden, wer welche Kosten trägt und Unterstützungs- und Begleitungsprogramme gestaltet - auch diesbezüglich braucht es bedarfsgerechter Verabredungen zwischen den beteiligten politischen Verantwortungsebenen.
Kontaktpersonen für dieses Papier: Christine Buchheit, Christian Lüders, Wolfgang Schröer, Kristin Teuber