sozial-Politik

Bevölkerung

Absolute Zahl der Geburten und Rate je Frau 2023 gesunken




Neugeborenes Kind
epd-bild/Detlef Heese
Die Zahl der Geburten in Deutschland ist 2023 eingebrochen: Sie sank um sechs Prozent oder fast 46.000 auf unter 700.000. Der Familiensoziologe Martin Bujard erklärt die Hintergründe der aktuellen Entwicklung, warum es enorm wichtig ist, dass die Politik darauf reagiert, und wie sie reagieren könnte.

Wiesbaden (epd). Die Zahl der Geburten in Deutschland hat sich 2023 negativ entwickelt und liegt jetzt wieder unter der Marke von 700.000. Wie am 17. Juli in Wiesbaden veröffentlichte Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen, kamen im Jahr 2023 exakt 692.989 Kinder zur Welt. Das waren 45.830 oder sechs Prozent Neugeborene weniger als 2022 (738.819).

Weniger Kinder als im Jahr 2023 wurden in Deutschland zuletzt 2013 geboren (682.069). Der Wert nähert sich auch der niedrigsten Geburtenzahl überhaupt seit 1946 an: Im Jahr 2011 kamen rund 663.000 Neugeborene zur Welt. Die vorläufigen Geburtenzahlen für die ersten vier Monate des laufenden Jahres zeigten einen weiteren, jedoch abgeschwächten Geburtenrückgang um 3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Ebenso sank die auch als Geburtenrate bezeichnete zusammengefasste Geburtenziffer im vergangenen Jahr um sieben Prozent auf 1,35 Kinder je Frau. Im Jahr 2022 hatte der Wert noch bei 1,46 Kinder je Frau gelegen, 2021 sogar bei 1,58.

Geburtenmangel heute ist Fachkräftemangel morgen

Der Forscher Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) erläuterte auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd): „Eine Zunahme der Geburtenrate um 0,2 hatte Deutschland in den 2010er Jahren durch die Familienpolitik, das klingt wenig, aber das macht einen Unterschied von etwa 100.000 Geburten pro Jahr mehr oder weniger aus.“ 100.000 Babys pro Jahr seien „extrem viel, denn in 20 Jahren kommen die auf den Arbeitsmarkt oder eben nicht“. Sie fehlten auch in den Sozialversicherungen, bei den Steuereinnahmen und als Mütter und Väter in 20 oder 30 Jahren. „Deswegen ist es wichtig, dass die Geburtenrate wieder ansteigt“, plädierte der Familiensoziologe.

Der Fachkräftemangel von heute habe viel mit den niedrigen Geburtenraten vor 20 Jahren und davor zu tun. Vor zwei Jahrzehnten sei dann ein familienpolitischer Paradigmenwechsel mit dem Ausbau der Kinderbetreuung, dem Einführen des Elterngelds und dem Ausbau von Ganztagsschulen erfolgt. Diese Veränderungen haben Bujards Worten zufolge dazu beigetragen, dass die Geburtenrate in Deutschland in den 2010er Jahren wieder gestiegen ist, auf 1,5 bis 1,6 zwischen 2015 und 2021. „2021 lag die Geburtenrate bei 1,57“, sagte der Experte. „Und jetzt ist sie wieder eingebrochen.“

Den Rückgang in den zurückliegenden zwei Jahren erklärte Bujard „mit den multiplen Krisen“: Während der Pandemie hätten Frauen ihren Kinderwunsch aufgeschoben, als die ersten Impfstoffe auf den Markt gekommen seien. Nach der Pandemie habe es keine Erholung gegeben, weil die Leute „erschöpft waren und auch verunsichert“. Der Ukraine-Krieg mache vielen Menschen Sorgen und habe für ökonomische Sorgen mit hohen Energiepreisen und Inflation gesorgt. „Krisen führen zu Unsicherheiten, und Unsicherheiten sind Gift für die Familienplanung“, erklärte Bujard. Der erstarkte Rechtspopulismus sowie Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft könnten ebenfalls zu Unsicherheit führen.

Der aktuell teure Wohnraum sei ebenfalls ein Faktor, sagte der Soziologe. Insbesondere fehlten Angebote mit genug Zimmern für Familien mit mehr als zwei Kindern: „Wir haben fast 30 Prozent der jungen Menschen, die eigentlich drei Kinder als ideal und positiv sehen. Aber nur gut die Hälfte davon bekommen wirklich drei Kinder - da ist sehr viel Luft nach oben.“ Uum wieder auf höhere Geburtenraten zu kommen, benötige es Familien, die drei oder mehr Kinder bekommen.

Rückgang besonders im Norden und Osten

Die Geburtenziffer sank laut der Statistik 2023 sowohl bei Frauen mit deutscher wie auch mit ausländischer Staatsangehörigkeit um sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr, allerdings ausgehend von unterschiedlichen Niveaus: So ging die Geburtenziffer bei deutschen Frauen von 1,36 auf 1,26 und bei Ausländerinnen von 1,88 auf 1,74 Kinder je Frau zurück.

Die zusammengefasste Geburtenziffer war 2023 in allen Bundesländern rückläufig. Besonders stark nahm sie in den nördlichen und östlichen Bundesländern, darunter in Sachsen (minus zehn Prozent) und in Mecklenburg-Vorpommern (minus neun Prozent). Im Saarland war der Rückgang mit minus ein Prozent am schwächsten. Die höchste Geburtenziffer mit 1,46 Kindern je Frau verzeichnete Bremen.

Mütter waren den Angaben zufolge im Jahr 2023 bei einer Geburt - unabhängig davon, ob es die Geburt des ersten Kindes oder eines weiteren Kindes war - im Durchschnitt 31,7 Jahre und Väter 34,7 Jahre alt. Damit nahm das Alter der Mütter bei Geburt im Vergleich zu 2021 (31,8 Jahre) leicht ab, während das Alter der Väter konstant blieb.

Politik muss Krisen abfedern

Familiensoziologe Bujard erklärte, niemand könne heute sagen, ob der aktuelle Rückgang dauerhaft sei, sich noch weiter verschärfe oder die Geburtenrate sich bald erhole: „Was wir aber wissen, sind die monatlichen Geburtenraten der ersten Monate von 2024 und die weisen darauf hin, dass es weiterhin auf diesen niedrigen Level bleibt.“ Das sei auch nicht verwunderlich, denn die Krisen als Gründe für die Verunsicherung bei jungen Menschen hätten ja nicht aufgehört.

Die Gesellschaft müsse die Entwicklung sehr ernst nehmen. Die Politik könne Krisen wie Pandemie, Klimakrise, Krieg oder Rechtspopulismus nicht einfach lösen, aber abfedern. „Ein gutes Beispiel ist, dass in Deutschland im ersten Lockdown den Menschen durch Kurzarbeit frühzeitig eine Sicherheit gegeben wurde, dass die Menschen keine Angst um ihren Arbeitsplatz haben mussten“, erläuterte Bujard. „Und das hat dafür gesorgt, dass es in Deutschland sogar einen leichten 'Cocooning Effekt' gab, einen kleinen Anstieg der Geburten, während es in anderen Ländern wie in Südeuropa oder USA unmittelbar einen Geburtenrückgang gab, weil viele Menschen arbeitslos wurden und Existenzängste hatten.“

Außerdem sei es wichtig, Familien zu besser bezahlbaren Wohnraum zu verhelfen. Vor allem Kinderbetreuung sei essenziell und könne politisch gestaltet werden. „Der Ausbau der Kinderbetreuung vor 10 bis 20 Jahren war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Geburtenrate gestiegen ist“, sagte Bujard. „Dagegen wird seit zwei, drei Jahren die Kinderbetreuung als immer weniger als verlässlich erlebt von den Eltern. Das spricht sich bei potenziellen Eltern herum und erschwert es, dass sie ihre Kinderwünsche umsetzen.“ Wenn junge Menschen bei Freunden sähen, dass die Kinderbetreuung nicht verlässlich sei, dann überlegten sie dreimal, ob sie sich für ein Kind entscheiden.