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Gewaltschutz

Interview

Gewalthilfegesetz: Einheitliche Finanzierung muss vor 2030 kommen




Sylvia Haller
epd-bild/Kaufmann H.W./ZIF
Dass der Bund ein Gewalthilfegesetz für mehr Schutz von Frauen plant, wird von Sylvia Haller begrüßt. Der erste Entwurf habe viele gute Ansätze, sagt die Mitgeschäftsführerin der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser im Interview mit epd sozial. Sie hofft auf in allen Bundesländern geltende Regelungen, nicht nur bei der Finanzierung.

Mannheim (epd). „Nur einheitliche Regelungen in Kombination mit der einzelfallunabhängigen Finanzierung der Hilfestrukturen bringen echte Fortschritte“, sagt Sylvia Haller. Und sie merkt kritisch an: „Unklar ist auch noch, wie viel Geld der Bund tatsächlich für den besseren Gewaltschutz geben will. Das steht im ersten Entwurf noch nicht drin.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Frau Haller, bevor wir zu den Plänen für besseren Gewaltschutz der Bundesregierung kommen, interessiert mich die aktuelle Lage der von Gewalt Betroffenen in Deutschland. Was sind die drängendsten Probleme, die schnell gelöst werden müssen?

Sylvia Haller: Da muss ich leider etwas ausholen. Wir haben ganz neue Daten vorliegen, ich meine das Lagebild zur häuslichen Gewalt, das die beiden Ministerinnen Lias Paus (Grüne) und Nancy Faeser (SPD) gerade vorgestellt haben. Demnach sind die angezeigten Fälle partnerschaftlicher Gewalt im vergangenen Jahr wieder angestiegen. Auch die Zahl der Femizide hat zugenommen. 155 Frauen wurden von ihren Partnern oder Expartnern ermordet. Dann ist auch die Kienbaum-Kostenstudie zur Finanzierung des Gewaltschutzes, sowohl der Beratungsstellen als auch der Frauenhäuser, zu nennen. Da sind Kosten für die Frauenschutzeinrichtungen von knapp 150 Millionen Euro genannt, der allergrößte Teil, nämlich 109 Millionen Euro kommt von den Ländern. Der Bund ist nur mit 13,2 Millionen Euro beteiligt. All das muss man wissen, wenn man die künftigen Reformen betrachtet und bewertet.

epd: Gut. Aber noch mal zu den akuten Problemen ...

Haller: Die unzureichende öffentliche Finanzierung des Gewaltschutzes, aber auch die Art der Finanzierung in Form von individuellen Abrechnungen für in Frauenhäuser geflüchtete Frauen ist schon lange ein Problem. Dazu kommt, auch das hat die Kienbaum-Studie noch einmal aufgezeigt, fehlen derzeit rund 13.000 Frauenhausplätze.

epd: Familienministerin Paus hat erste Eckpunkte für ein Gewalthilfegesetz vorgelegt. Was ist zu dem Entwurf zu sagen?

Haller: Wir begrüßen das Vorhaben, das ja im Koalitionsvertrag steht. Wir haben sehr positiv aufgenommen, dass der Bund in die regelhafte Finanzierung der Hilfen einsteigen will. Dazu soll nun ein bundeseinheitliches Gesetz kommen, doch das wird noch dauern. Es gibt nur einen ersten Entwurf, das ist noch kein Referentenentwurf. Aber es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.

epd: Was betrachten Sie als positiv?

Haller: Wir sehen mehrere gute Ansätze. Frauen mit prekärem Aufenthaltsstatus, also Migrantinnen, die Gewalt erleiden, werden speziell in den Blick genommen. Da ist etwa im Gespräch, die Wohnsitzauflage im Gewaltfall aufzuheben, sodass die Betroffenen dann den Landkreis verlassen dürfen. Das zweite große Thema ist die einzelfallunabhängige Finanzierung, also die Objektfinanzierung der Einrichtungen, ganz egal, welche Personen im Frauenhaus aufgenommen werden und wie lange. Jede Frau soll demnach einen Zugang zum Gewaltschutz haben, ganz unabhängig von ihrer jeweiligen individuellen Situation. Dazu will der Bund eine Empfehlung abgeben, denn er kann das im föderalen System den Ländern nicht vorschreiben. Dann soll die generelle Kostenfreiheit für die Gewaltbetroffenen, die ins Frauenhaus kommen, festgelegt werden. Kinder, so ist angedacht, sollen als eigenständige, von Gewalt betroffene Personen betrachtet werden. Das eigene Gewalterleben wird dann explizit anerkannt. Und schließlich ist zu begrüßen, dass die Angebotsstrukturen deutlich ausgebaut werden, und zwar barrierefrei.

epd: Das sind viele positive Überlegungen, aber die Pläne haben doch sicher auch noch Mängel ...

Haller: Stimmt. Auch da gibt es mehrere Aspekte. Wir sehen das Vorhaben kritisch, dass bei jedem Einzug einer Frau mit Kind oder mehreren Kindern eine Anzeige beim Jugendamt gemacht werden soll. Das lehnen wir ab. Denn die Frauen dürfen nicht als Personen mit einem Defizit betrachtet werden. Sie haben in aller Regel keinen Bedarf an Jugendhilfeleistungen. Außerdem gefährdet ein solches Vorgehen die Anonymität der Frauen, die ganz wichtig ist. Dann geht es um Fragen der angedachten Personalschlüssel, Standards bei der räumlichen Ausstattung der Einrichtungen und die Bezahlung der Fachkräfte nach Tarif. Uns stellt sich auch die entscheidende Frage: Wie bundeseinheitlich kann die neue Regelung sein? Denn auch weiterhin bleibt die größte Verantwortung, nicht nur die Finanzierung, bei den Ländern. Also haben wir weiter 16 unterschiedliche Regelungen. Deshalb sind wir da auch mit Bund und Ländern im Gespräch. Wir sagen: Nur einheitliche Regelungen in Kombination mit der einzelfallunabhängigen Finanzierung der Hilfestrukturen bringen echte Fortschritte. Und unklar ist übrigens auch noch, wie viel Geld der Bund tatsächlich geben will. Das steht im ersten Entwurf noch nicht drin.

epd: Wie schnell kann die Umsetzung des geplanten Gesetzes gehen?

Haller: Da muss man sich in Geduld üben. Selbst wenn die Verabschiedung des Gesetzes noch in dieser Legislatur erfolgt, was Ministerin Paus unbedingt erreichen will, wird es erst ab 2030 wirken, ab dann hat also jede von Gewalt betroffene Frau etwas davon. Das ist der normale Gang der Gesetzgebung, auch der Bundesrat muss zustimmen. Das alles braucht seine Zeit. Die braucht es ja auch, wenn man bedenkt, dass ja viele Frauenhäuser erweitert, umgebaut oder gar neu errichtet werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen, denn das muss alles im laufenden Betrieb passieren. Aber die einheitliche Finanzierung sollte schon deutlich schneller kommen als 2030.

epd: Jedes Bundesland verfährt nach eigenen Vorgaben. Der Bund kann die Länder ja nicht verpflichten. Wie also soll das künftig funktionieren mit der einheitlichen Finanzierung?

Haller: Der Hebel ist der geplante allgemeine Rechtsanspruch auf Gewaltschutz. Das ist kein Hebel für die Ansprüche einer einzelnen Frau, wird kein durchsetzbarer individueller Rechtsanspruch sein. Aber der gesetzliche Anspruch auf Schutz und Beratung kann sehr wohl greifen, wenn es um den Ausbau der Hilfen und um einheitliche Standards und Finanzierungen geht. Dann müssen die Länder handeln und die Unterstützungsstrukturen ausbauen. Nur so kann jede Frau zu ihrem Recht kommen.

epd: Reden wir noch über einheitliche Standards in den Einrichtungen. Wie sollten die aussehen?

Haller: Wir sagen, dass es pro vier Personen im Frauenhaus, egal ob das auch Kinder sind, eine Vollzeitstelle für eine Fachkraft zur Unterstützung geben sollte, also einen Personalschlüssel von 1:4. Auch die räumlichen Bedingungen in den Einrichtungen sollten vereinheitlicht werden. So sollte es pro Person im Frauenhaus 33 Quadratmeter Fläche geben, das ist natürlich ein Durchschnittswert, in den auch Gemeinschaftsflächen eingerechnet werden. Da gibt es in den Einrichtungen vor Ort und von uns Dachverbänden sehr konkrete Vorstellungen, an denen sollte sich die Politik orientieren.

epd: Eine Ihrer Kernforderung ist die einzelfallunabhängige Finanzierung der Hilfen. Derzeit müssen Frauenhäuser und Beratungsstellen einzeln abrechnen, wem sie Schutz gewähren. Warum ist eine Änderung so wichtig?

Haller: Hier ist das Stichwort Objektfinanzierung. Wir brauchen Geld, um die Frauenhäuser offenhalten und ausstatten zu können, für die dortigen fachlichen Hilfen und die Beratung. All das muss finanziert werden, und zwar ganz unabhängig davon, ob Frauen mit oder ohne Leistungsansprüche dort tatsächlich Schutz finden. Und auch unabhängig davon, wer die einzelne Frau ist, die dort vor der Tür steht.

epd: Der Deutsche Städtetag hat sich skeptisch zum geplanten Gesetz geäußert. Ein individueller Anspruch sei nicht umsetzbar. Können Sie das nachvollziehen?

Haller: Ja, auf jeden Fall. Denn es gibt durchaus Überschneidungen bei den Positionen. Wir sagen ja auch, dass der individuelle Rechtsanspruch auf einen Frauenhausplatz nicht umsetzbar ist. Da sind wir an der Seite des Städtetages. Gleichzeitig darf man diese Einwände aber nicht missbrauchen, um aus der politischen Verantwortung rauszukommen. Aus der Sicht der Kommunen ist die Angst natürlich groß, am Ende auf den Kosten des Gewaltschutzes sitzenzubleiben. Was passieren würde, wenn das Geld von Bund und Ländern eben nicht vor Ort ankommt. Deshalb ist es wichtig, dass die Kommunen mit am Tisch sitzen, wenn über Fragen von Reformen verhandelt wird.

epd: Der Städtetag sagt weiter: „Eine Ausweitung auf alle gewaltbetroffenen Personen ist mit den vorhandenen Angeboten nicht umsetzbar.“ Das würde heißen, für trans-, inter- und nicht-binäre Personen gäbe es keine Fortschritte beim Gewaltschutz.

Haller: Das würde ich nicht sagen. Wenn wir von einem künftigen Rechtsanspruch auf Gewaltschutz ausgehen, dann gilt der für alle Personen, denn er ist geschlechtsneutral zu formulieren. Er gilt damit auch für Männer. Auch wenn es hier deutlich weniger Bedarf gibt als für Frauen. Wir haben auch die geltende Istanbul-Konvention und die EU-Gewaltschutzrichtlinie, die darauf abzielen, dass es für bestimmte Personen eine deutlich höhere Gewaltbetroffenheit gibt. Daraus folgt, dass der geplante Ausbau der Hilfestrukturen sich am tatsächlichen Bedarf orientiert und damit natürlich auch die Belange von trans-, inter- und nicht-binäre Personen im Blick hat. Gerade diese Personengruppe hat eine besonders hohe Vulnerabilität Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden. Das heißt, spezielle Schutzräume müssen ausgebaut oder neu gebaut werden.