Stuttgart (epd). Feiner Staub liegt in der Luft. Konzentriert und mit großer Akribie schleift Ralf Focke die vor ihm liegenden Holzwürfel glatt. Einen nach dem anderen. „Ich schleife fast immer, wenn ich hier bin“, sagt der 87-Jährige aus Leinfelden bei Stuttgart. Sägen oder Bohren wäre nichts für ihn. Denn er ist stark sehbehindert, verfügt nur noch über zehn Prozent Sehkraft. Aber das hält ihn nicht auf. „Ich fühle ja mit den Fingern, ob das Produkt schon fertig ist oder noch bearbeitet werden muss“, sagt er.
Ihm gegenüber sitzt Walter Vollmer. Auch er ist heute fürs Schmirgeln eingeteilt. Vollmer war bis 2016 Leiter der Staatsanwaltschaft in Tübingen. Er wirkt fit und lacht viel. Doch es fällt auf, dass ihm manche Sachen nicht einzufallen scheinen, sein Alter etwa. Wann er erste Anzeichen der Demenz bemerkt habe? „Hm.“ Er überlegt. „Eigentlich gar nicht“, sagt er ein wenig nachdenklich - um dann lachend zu erzählen, dass seine Ehefrau ihn heute Morgen gebracht habe und gegen Mittag auch wieder abholen werde: „Manchmal braucht sie etwas Zeit für sich.“
Seit 2015 treffen sich im „Männerschuppen“ alle zwei Wochen Männer ab 60 Jahren aufwärts mit oder ohne Demenz, um gemeinsam zu werkeln. Projekte für Demenzkranke gebe es zwar viele, sagt Ralf Daubner. Sie richteten sich aber überwiegend an Frauen. „Die meisten Männer mögen Kaffeekränzchen, Stuhlkreise und bunte Tücher weniger“, glaubt er. Daubner ist Mitarbeiter beim Sozialpsychiatrischen Dienst für alte Menschen des Landkreises Esslingen, der das Projekt „Männerschuppen“ gemeinsam mit dem Pflegestützpunkt und dem Stadtseniorenrat betreibt.
Für einstige „Macher“ wie Walter Vollmer und Ralf Focke seien konkrete Ergebnisse ihrer Arbeit wichtig, sagt Daubner: „Hier haben sie das Gefühl, wieder etwas hinzubekommen. Das stärkt das Selbstbewusstsein.“ Zudem gehe es bei der gemeinsamen Arbeit darum, Wissen und Fähigkeiten zu reaktivieren: „Auch bei Menschen mit Demenz ist ja nicht alles verschüttgegangen.“
Demenz ist eine tückische Krankheit. Am Anfang sind häufig Kurzzeitgedächtnis und Merkfähigkeit gestört, später verschwinden auch Inhalte des Langzeitgedächtnisses. Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft geht davon aus, dass in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen an Demenz erkrankt sind. Hochrechnungen zufolge könnte die Zahl der Betroffenen bis 2050 auf 2,8 Millionen steigen.
Bislang ist Demenz nicht heilbar. Aber das Fortschreiten der Symptome lässt sich laut Experten hinauszögern. Zum einen durch Medikamente, zum anderen durch nichtmedikamentöse Ansätze wie Musik- und Kunsttherapie oder Verhaltens- und Erinnerungstherapie. Positiv sind auch soziale Aktivitäten, gepaart mit einer gezielten Beschäftigung, die vorhandene Fähigkeiten erhält oder neu aktiviert.
Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft hat auf ihrer Internetseite einige Tipps zum Umgang mit Demenzkranken zusammengestellt, die sich in der Praxis bewährt hätten, wie es heißt. Vor allem gelte es sowohl für Betroffene als auch für Angehörige, die Erkrankung anzunehmen, anstatt sie zu verleugnen. Familienmitglieder oder nahestehende Personen sollten die Kranken in Alltagstätigkeiten einbeziehen, die ihnen Spaß machten. Dabei könnten sie an gewohnte Handlungsmuster anknüpfen: „Welche Vorlieben und Abneigungen hatte der Kranke?“
Im „Männerschuppen“ übernehmen diese Aufgaben Ehrenamtliche. Einer von ihnen ist Manfred Hertner. Der ehemalige Einzelhandelskaufmann ist ein leidenschaftlicher Hobby-Handwerker. „Manchmal komme ich auch her, wenn meine Frau und ich ein wenig Abstand voneinander brauchen“, sagt der 73-Jährige. „Das tut mir gut - und ihr auch.“ Dann zimmert Hertner beispielsweise einen Wohnzimmertisch aus ausgemusterten Holzstufen. Oder er baut einen Kaufmannsladen für seinen Enkel. Stolz zeigt er einige seiner Werke.
Hertners Hauptaufgabe besteht aber darin, die Teilnehmer je nach Begabungen für die verschiedenen Tätigkeiten einzuteilen und anzuleiten: Du zerteilst die Paletten, du lackierst die Vogelhäuschen, und du versiehst die fertigen Pflanzenschemel mit dem Männerschuppen-Logo. Dabei legt Hertner Wert auf Qualität. Schließlich werden die Produkte auf Märkten verkauft. „Da musst du noch mal ran“, sagt er zu Walter Vollmer. „Das muss glatt sein wie ein Kinder-Popo.“ Um übertriebene Perfektion geht es Hertner aber nicht: „Es geht um Bestätigung, Selbstvertrauen und die Erkenntnis, dass man mit dieser Krankheit nicht allein ist.“