Berlin (epd). Der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration, Hans Vorländer, sieht in der aufgeheizten Stimmung beim Thema Migration „ein Hindernis für politische Lösungen“. Er mahnte am 14. Mai bei der Vorstellung des jüngsten Jahresgutachtens in Berlin eine Versachlichung der Debatte an. „Gefährlich“ sei insbesondere, wenn die Politik Erwartungen wecke, die sie nicht erfüllen könne - etwa auf einen Rückgang der Flucht-Migration.
Ob die jüngsten Verschärfungen in der Asylpolitik so wirkten wie gedacht, sei eine Frage, „die wir im Augenblick nicht beantworten können“, sagte Vorländer. Man wisse aber aus der Vergangenheit, dass die Absenkungen von Sozialleistungen „keinen unmittelbaren Einfluss haben auf den Zuzug“, sagte der Demokratie- und Migrationsforscher auf die Frage, wie sich beispielsweise die Einführung der Bezahlkarten auswirken werde.
Insgesamt beurteilen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des neunköpfigen, unabhängigen Sachverständigenrats (SVR) die deutsche Einwanderungspolitik der vergangenen fünf Jahre differenziert: „Wir sehen in manchen Bereichen eine substanzielle Öffnung, in anderen dagegen eher Versuche, durch Restriktionen stärker zu steuern“, bilanzierte Vorländer. Positiv sieht der Sachverständigenrat, dass Deutschland sich der Einwanderung von Fachkräften geöffnet und die Politik durch Gesetzesreformen entscheidende Hürden gesenkt hat. Dazu zählt, dass die Gleichwertigkeit ausländischer Abschlüsse nicht mehr nachgewiesen werden muss, Berufserfahrung anerkannt und auch die Einreise zur Jobsuche ermöglicht wird.
Verständnis äußert das Gremium für den Wunsch der Politik nach einer Begrenzung und Steuerung der Flucht-Migration, mahnt aber die Einhaltung humanitärer Standards bei der Umsetzung der EU-Asylreform an. Schutzsuchende müssten auch in den geplanten beschleunigten Asyl-Grenzverfahren Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung haben und menschenwürdig untergebracht werden, sagte Vorländer.
Asylverfahren in Drittländer auszulagern, wie es beispielsweise Italien mit Albanien und Großbritannien mit Ruanda versuchen, steht der Sachverständigenrat kritisch gegenüber. Vorländer sagte, wenn das Anhörungsverfahren im Bundesinnenministerium beendet sei, werde der SVR seine Einwendungen öffentlich machen.
Ob es Deutschland auf längere Sicht gelingen wird, Fluchtbewegungen zu steuern, Arbeitskräfte ins Land zu holen und die Integration von Zugewanderten zu fördern, hängt nach Einschätzung der Sachverständigen nun von der Leistungsfähigkeit der Behörden und der Infrastruktur ab. Dort zeigten sich Engpässe, die nicht durch Zuwanderung verursacht seien, „sie macht sie aber sichtbar“, erklärte die stellvertretende SVR-Vorsitzende Birgit Leyendecker. Die Bochumer Psychologin forderte mehr Aufmerksamkeit für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche. „Ihr Abschneiden gibt Anlass zur Sorge“, sagte Leyendecker. Die Eingliederung in Kitas und Schulen dauere vielerorts zu lange, kritisieren die Sachverständigen.
Obwohl Migration in aktuellen Umfragen derzeit wieder als eines der drängendsten Probleme genannt wird, bleibt dem Gutachten zufolge in der Bevölkerung insgesamt akzeptiert, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Menschen erwarteten von der Politik aber eine Steuerung der Flucht-Migration. Zudem drohe sich die Ablehnung dort zu verschärfen, wo die Infrastruktur überlastet sei oder nicht mehr funktioniere, warnen die Sachverständigen.