Ludwigsburg (epd). Das Telefon klingelt: „Wir fahren jetzt los, können wir ein Kind zu Ihnen bringen?“ Etwa zwei Stunden später stehen zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes mit einem Kleinkind vor der Haustür von Familie Niemann, die im Landkreis Ludwigsburg wohnt. Das Kind wurde wegen Vernachlässigung in Obhut genommen. Nun soll es bei den Niemanns wohnen, die eine sogenannte „Bereitschaftspflegefamilie“ sind. In dieser Zeit wird geklärt, wie es mit dem Kind weitergeht: Ob es zur leiblichen Familie zurückkann oder in eine andere Pflegefamilie oder eine Wohngruppe kommt.
Fünfmal bekam Gudrun Magewirth-Niemann bereits einen solchen spontanen Anruf und wurde dann innerhalb von kurzer Zeit für einige Monate Pflegemutter für ein Kind in akuter Not. Begonnen hat alles damit, dass Ehepaar Niemann gemeinsam mit den sieben leiblichen Kindern im Jahr 2016 beschloss, einen minderjährigen Flüchtling aufzunehmen. Eineinhalb Jahre wohnte ein damals 15-jähriger Afghane in der Großfamilie. Auch wenn es nicht immer einfach war, einen Teenager mit einem Kulturschock und traumatisierenden Erfahrungen in die Familie einzubinden, haben alle in dieser Zeit gemerkt, dass es erfüllend ist, jemandem eine Heimat geben zu können. „Wir erlebten: Wir wollen das, und wir haben zusammen gelebt und zusammen gelernt“, sagt Magewirth-Niemann.
Die Bereitschaftspflege ist eine Sonderform der Familienpflege, die entweder auf der gesetzlichen Regelung zur Hilfe zur Erziehung, das heißt, § 33 SGB VIII und /oder auf dem Gesetz zur Inobhutnahme, das heißt, § 42 SGB VIII, beruht. Bereitschaftspflege bewegt sich zwischen Pflegefamilie und Inobhutnahme, heißt es auch der Homepage der Pflegefamilienakademie des Marburger St. Elisabeth-Vereins.
In der Praxis wird demnach unterschieden zwischen der sogenannten Kurzzeitpflege, das heißt, einer Pflegefamilie, die Kinder für eine kurze, definierte Zeit bei sich aufnimmt, und der Bereitschaftspflege. Die Unterbringung in einer Bereitschaftspflegefamilie erfolgt akut und in der Regel für eine vorher nicht absehbare Dauer. Das bedeutet auch, dass das Kind, das in der Bereitschaftspflegefamilie aufgenommen wird, aus einer akuten und manchmal bis vor wenigen Stunden noch gegenwärtigen Krisensituation kommt.
Seit sechseinhalb Jahren wohnt nun bereits das Dauerpflegekind Tarek (Name geändert) in der Familie von Gudrun Magewirth-Niemann. Er gehört vor allem für die zwei jüngsten leiblichen Kinder, die 17 und 18 Jahre alt sind, ganz selbstverständlich dazu: „Er kam zu uns, als er vier Jahre war und wächst hier auf, er ist für mich nicht nur ein Pflegekind, sondern ganz klar mein Bruder“, sagt der 18-jährige Elias.
Neben Tarek kümmert sich Magewirth-Niemann derzeit um die vierjährige Katharina (Name geändert) in Bereitschaftspflege. Deren Mutter konnte nicht für das Kind sorgen, weil sie schwer psychisch krank war. „Am Anfang hatte sie Heimweh. Wir haben dann viel über die Mutter gesprochen. Dann konnte Katharina ankommen und Kind sein und sich umsorgen lassen, weil sie nicht mehr nach der Mama schauen musste“, erzählt sie.
Ihre Aufgabe sieht die 58-Jährige in den ersten Tagen, wenn die Kinder neu ankommen, vor allem darin, ihnen Sicherheit zu geben und eine geregelte Tagesstruktur. Auch wenn die Bereitschaftspflegekinder nur ein paar Monate bei den Niemanns wohnen, ist für Magewirth-Niemann klar: Sie sind Teil der Familie. „Ich erkläre ihnen, ich bin hier im Haus die Mama und sie dürfen mich auch gerne wie alle aus der Familie Mama nennen, das hilft ihnen meist, sich einzufinden. Aber ich vermittle ihnen auch, dass sie leibliche Eltern haben, die wir respektieren.“
Weil die Kinder oft viel Belastendes erlebt haben, ist es auch wichtig, sensibel auf ihre Bedürfnisse einzugehen. „Wir waren mit Tarek auf dem Weg ins Kindertheater, die Stadtbahn fuhr ein, und ich nahm in an die Hand, um loszulaufen, damit wir die Bahn noch bekommen“, erzählt die Pflegemutter. „Plötzlich fing er an zu weinen und sagte, er hätte Angst. Da wurde mir klar: Der Junge hat Fluchterfahrung und immer wenn ihn jemand an die Hand nahm und rannte, war er wahrscheinlich in großer Gefahr. Und dieses Gefühl kam wieder in ihm hoch. In diesem Moment waren das Kindertheater und die Stadtbahn nicht mehr wichtig, sondern, dass er sich wieder regulieren konnte und wohlfühlt.“
Wenn ein Kind weiterzieht, organisiert Magewirth-Niemann ein Abschiedsfest. Oft fließen dann auch Tränen - auf beiden Seiten. „Selbst wenn die Kinder nur eine Weile da sind, lasse ich mich emotional auf sie ein. Ich kann und will sie nicht auf Sparflamme betreuen.“ Auch wenn es immer wieder herausfordernd sein kann und sie auch an ihre Grenzen kommt, kann sich die überzeugte Christin für sich nichts Besseres vorstellen, als „Mama“ zu sein für ihre Pflegekinder.
So durfte sie bei Tarek erleben, wie er einen riesigen Entwicklungssprung machte, als er zu ihnen kam: Er fing an zu reden und zu anderen Kindern Kontakt aufzunehmen. Deshalb ist es ihr ein Anliegen, andere Menschen zu ermutigen, sich zu überlegen, ob sie nicht auch ein Kind in ihrer Familie aufnehmen wollen. „Es ist unheimlich schön, ein Kind ein Stück begleitet und ihm etwas mitgegeben zu haben, in dem Moment, wo es das am meisten gebraucht hat.“
Und tatsächlich ist der Bedarf an Pflegefamilien sehr groß: Laut der Pressesprecherin der Kommunalverbands für Jugend und Soziales Baden-Württemberg, Sima Arman Beck, waren in Baden-Württemberg Ende des Jahres 2022 in rund 8.000 Fällen Kinder in Pflegefamilien untergebracht. Vor Ort werde es aber immer schwieriger, geeignete Pflegefamilien zu finden, sagte sie gegen über dem Evangelischen Pressedienst (epd). Und die Leitung der Fachdienste des Jugendamtes Ludwigsburg, Regina Wißmann-Hähnle betont: „Wir würden uns sehr freuen, wenn Familien bereit sind, ihr Haus und Herz für fremde Kinder zu öffnen.“
Im Südwesten hat man viel Erfahrung mit diesem speziellen Hilfsangebot. In Stuttgart, entwickelt vom örtlichen Jugendamt, gibt es die Bereitschaftspflegefamilien schon über 20 Jahre. So konnten bis 2022 700 Kinder in etwa 60 Familien in krisenhaften Situationen betreut und versorgt werden. Und: In der begrenzten Zeit der Bereitschaftspflege konnten Perspektiven und passende Hilfsangebote für das weitere Aufwachsen der Mädchen und Jungen entwickelt werden.