Berlin (epd). Joß Steinke, der beim DRK die Abteilung Jugend und Wohlfahrtspflege leitet, hat „wenig Hoffnung, dass in absehbarer Zeit in der sozialen Arbeit ein wirklich großer Sprung hin zu besseren Arbeitsbedingungen und auch besserer Bezahlung gelingt“. Das werde so lange so bleiben, wie die soziale Arbeit bei Kommunen und Sozialkassen primär als „Marktbestandteil“ und damit als Kostenfaktor gesehen werde, erklärte der Experte bei der Vorstellung der Studie „Vor dem Kollaps!? Beschäftigung im sozialen Sektor“ am 18. März in Berlin.
Wegen vermehrt fehlender Fachkräfte bestehe die Gefahr, dass künftig grundlegende Leistungen der sozialen Daseinsvorsorge wegbrechen. Das belege die Untersuchung, die von ihm gemeinsam mit Christian Hohendanner und Jasmin Rocha vorgelegt wurde.
Untersucht wurde, wie der soziale Sektor im Wettbewerb um Arbeitskräfte dasteht. Das Ergebnis lautet wenig überraschend: schlecht. Die drei Autorinnen und Autoren zeichnen ein düsteres Bild dessen, was ohne grundlegende politische Maßnahmen auf den deutschen Wohlfahrtsstaat zukommen könnte.
Für die Studie wurde erstmals der gesamte soziale Sektor mit Blick auf Arbeitsbedingungen, Arbeitsbelastungen, Altersstrukturen, Beschäftigungszeiten und Bezahlung untersucht. Derzeit arbeiten in der Sozialbranche insgesamt rund drei Millionen Menschen in mehr als 100 Berufsgattungen. 2008 waren es noch 1,8 Millionen. Doch der Personalmangel in der Pflege, in Kitas, in der Schulsozialarbeit, bei Migrationsdiensten oder in der Behindertenarbeit führe „zum kontrollierten Kollaps, falls die Arbeitsbedingungen so bleiben, wie sie derzeit sind“, sagte Steinke. Problemlösungen seien schwierig, denn der Föderalismus sowie unterschiedliche kommunale Zuständigkeiten erschwerten nötige Reformen.
Steinke: „Es ist uns wichtig, dass wir deutlich machen, dass der gesamte soziale Sektor im Wettbewerb um Arbeitskräfte bestehen muss. Punktuelle Lösungen für einzelne Arbeitsfelder helfen nur bedingt, weil die Gefahr besteht, dass Attraktivitätssteigerungen an einer Stelle Destabilisierungen an anderer Stelle nach sich ziehen.“ Wenn zum Beispiel die Arbeit im Hort attraktiv gemacht werde, dann gehen als Erstes die Kita-Erzieherinnen dorthin. Das Problem verlagere sich nur.
Der Bedarf an Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern steige der Studie zufolge ständig, doch Personal sei immer schwerer zu finden. So gaben 2022 80 Prozent der Träger an, Probleme bei der Nachbesetzung von Stellen zu haben. 2010 lag der Wert noch bei 40 Prozent.
Dazu komme die rapide alternde Belegschaft. So waren 2022 in der Pflege 40 Prozent der Fachkräfte in der Altersgruppe 50 bis 64 Jahre zu finden. 56 Prozent der Personalwechsel waren auf eigene Kündigungen zurückzuführen (andere Branchen: 47,8 Prozent). Dass, so Mitautor Hohendanner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich „Betriebe und Beschäftigung“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschun (IAB) in Nürnberg, deute nicht nur auf ein Rekrutierungs-, sondern zunehmend auch ein auf Bindungsproblem hin, dem sich die Träger stellen müssten. Leicht zu lösen sei das nicht, denn: „Im Wettbewerb um Fach- und Arbeitskräfte hat der soziale Sektor im Vergleich zu anderen Branchen strukturelle Nachteile.“
Und noch ein Fakt erschwert die Personalsuche: Der „Care Pay Gap“, also die durchschnittliche Schlechterbezahlung in der Sozialbranche im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen, betrug der Studie zufolge 2022 17 Prozent - berechnet auf der Grundlage der Bruttolohnverdienste in Vollzeit. Das sei ein bedenklicher Indikator, so Steinke. Zu erklären sei die Differenz auch mit der hohen Frauenquote bei den Beschäftigten in der sozialen Arbeit. Sie lag bei 80 Prozent (andere Branchen: 43 Prozent).
Zum Vergleich der Einkommen sagte dagegen bpa-Präsident Bernd Meurer: „Hier wird mit Uraltzahlen die Pflege schlechtgeschrieben. Ausgerechnet das DRK und das IAB bedienen alte Klischees zur Arbeitsplatzattraktivität in der Pflege und stützen sich dabei auf Zahlen, die aus der Zeit vor den deutlichen Gehaltssteigerungen der letzten Jahre stammen.“
Die Gehaltsdaten seien vier Jahre alt, kritisierte Meurer. „In den vergangenen vier Jahren stiegen die Durchschnittsgehälter in der Pflege deutlich. Heute kratzen die Einstiegsgehälter der Pflegehilfskräfte schon an der 3.000 Euro-Marke und die meisten Pflegefachkräfte haben die monatlichen 4.000 Euro längst übersprungen.“
Hohendanner sagte weiter, dass künftig zunehmend die Menschen fehlen würden, „die Hilfe anbieten, pflegen, betreuen und beraten“. Dann klafften die Ansprüche und Erwartungen, was in diesem Sektor überhaupt noch leistbar ist, zunehmend auseinander. „Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit werden wir in Zukunft immer häufiger spüren“, so Hohendanner.
Steinke forderte eine bundesweite Meldestelle für Versorgungsmängel in der sozialen Arbeit - vergleichbar mit dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Würden Lücken benannt und dokumentiert, habe man einen Ausgangspunkt, um den Hebel für Verbesserungen anzusetzen.
Und auch auf der betrieblichen Ebene müsse reagiert werden, sagte Autorin Jasmin Rocha, die arbeitet als Research Managerin im Generalsekretariat des DRK arbeitet und das „Data Science Hub“ leitet. Einrichtungen und Dienste könnten heute schon Dinge in den Blick nehmen, zum Beispiel Weiterbildungen und mehr Mitgestaltung für die Beschäftigten. Die Dienstplangestaltung in den Pflegeeinrichtungen ist hierfür ein Beispiel. Auch könne man kreative Lösungen für die Schichtarbeit finden und Modelle entwickeln, wie sich die Arbeitszeit von Teilzeitkräften erhöhen lässt.