Der Begriff „Triage“ ist hart und auch umstritten, aber er beschreibt das, was viele - insbesondere auf Seiten der Betroffenen - gerade erleben: Sichtung und Auswahl der Pflegebedürftigen. Es gibt unsichtbare Warteschlangen und eine stille Rationierung von Pflegeleistungen.
Der Fach- und Arbeitskräftemangel in der Pflege spitzt sich zu. Meldungen von Insolvenzen und Schließungen ambulanter Pflegedienste und stationärer Einrichtungen reißen nicht ab. Bei ambulanten Diensten, Kurzzeit- und Tagespflegen sowie stationäre Einrichtungen fehlt es vielerorts an Personal. Als Folge entwickelt sich eine Praxis, die zunehmend Entsetzen auslöst. Immer mehr betroffene Familien melden, dass sie vonseiten der professionell Pflegenden kein adäquates Angebot mehr erhalten. Angehörige, die in Pflegesituationen stecken, die sich immer weiter zuspitzen, berichten von Kündigungen durch Pflegedienste. Für die Arbeitgeber aus der Pflege geht diese Praxis gegen alles, wofür sie stehen.
Laut einer aktuellen Studie des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) mussten 71 Prozent der befragten Unternehmen (578 Teilnehmende) ihre Leistungen aus personellen Gründen in den vergangenen sechs Monaten einschränken: 65 Prozent der Pflegeheime können Leistungen nicht erbringen und sogar 84 Prozent der ambulanten Dienste können die Nachfrage von Neu- und Bestandskunden nicht erfüllen. In immer mehr Regionen streichen ambulante Dienste Touren zusammen und kündigen Pflegeverträge mit den Patientinnen und Patienten, weil sie die stetig steigende Nachfrage nicht mehr befriedigen können und sie der Kostendruck zu noch mehr Effizienz bei der Leistungserbringung zwingt.
Diese Praxis hat nichts mit „Rosinenpicken“ zu tun, wie es von selbsternannten Patientenschützern gerne beschrieben wird. Hier greifen schlicht die Mechanismen eines auf Ökonomisierung getrimmten Systems, mit dessen Hilfe Kosten begrenzt und die handelnden Akteure zu gegenseitigen Schuldzuweisungen gedrängt werden.
Es droht die sogenannte „Pflege-Triage“, bei der kranke und hilfebedürftige Menschen mit größtem Pflegebedarf im Stich gelassen werden. Es droht ein Kollaps in der Versorgung, der immer mehr vermeidbare Krankenhauseinweisungen zur Folge haben muss. Die Einweisung ins Krankenhaus ersetzt dann die fehlende pflegerische Versorgung. Diese Fehl-Allokation führt zu weiter steigenden Kosten und der „Drehtüreffekt“ bringt die Betroffenen endgültig an ihre Grenzen.
Der Kostendruck ist mittlerweile zu groß, um überall eine gute Versorgungsqualität gewährleisten zu können. Es gibt immer mehr Fälle, die einfach durchs Raster fallen. In der Pflege erleben wir die Bevorzugung von leichten Pflegefällen und eher einfachen Versorgungen. Betroffene berichten, dass schwere und damit zeitintensive Fälle, meist Pflegegrade 4 und 5, die oft auch den Einsatz von Spezialisten erforderlich machen, von Pflegediensten und auch von stationären Einrichtungen immer häufiger abgelehnt oder gekündigt werden. Bei alledem ist es erstaunlich, wie gelassen Kommunen und Kostenträger zu sein scheinen. Ein Dialog mit den Betroffenen und Arbeitgebern findet aktuell jedenfalls nicht statt.
Welche Lösungsansätze gibt es nun? Für die Arbeitgeber und Angehörigenvertreterinnen ist klar: die Vorschläge, um die Misere zu beheben, liegen längst auf dem Tisch. Das fängt bei der dringend notwendigen Digitalisierung an. Es müssen endlich vorhandene und wirksame Lösungen in die Fläche gebracht werden. Beispiel gefällig? In den Lagern der Hersteller liegen erprobte und evaluierte Systeme für digitale Arztvisiten, die nachweislich 40 Prozent der Krankenhauseinweisungen von Pflegebedürftigen verhindern könnten, wenn sie in stationären Einrichtungen und Pflegediensten eingesetzt würden.
Die lange diskutierte Entbürokratisierung in der Pflege müsste endlich vorankommen. Die zahlreichen - zum großen Teil sinnlosen - Meldungen und das Erstellen von Konzepten muss aufhören. Zudem müssen Prüfungen reduziert und besser aufeinander abgestimmt werden. Das würde jede Menge Arbeitszeit freisetzen, in der Patienten versorgt werden könnten.
Doch zahlreiche Spezialisten arbeiten heute in der Grundversorgung, obwohl sie in der Intensivpflege, beispielsweise bei der Behandlung von Wunden, besser eingesetzt werden könnten. Solange es dafür aber keine angemessene Vergütung gibt, wird wertvolles Wissen verschwendet.
Angehörigenvertreter drängen intensiv auf den Ausbau von Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflegeangeboten. Diese sind chronisch unterfinanziert und insbesondere für die Tagespflege braucht es neue, niederschwellig zu organisierende Konzepte.
Die Liste könnte noch um viele Vorschläge ergänzt werden. Wir als Ruhrgebietskonferenz-Pflege sind sicher, dass es kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem gibt. Die Ursache für den Stillstand steckt in der Komplexität des Gesamtsystems. Unser Gesundheitssystem mit seinen mehreren Säulen ist nicht mehr zeitgemäß - und braucht eine radikale Reform. Durch diverse Pflegestärkungsgesetze ist nichts wirklich besser geworden. Sie haben im Gegenteil sogar vieles verkompliziert und eine Menge unnötige Bürokratie geschaffen. Ohne eine radikale Reform der Pflegeversicherung wird das System kollabieren. Wir sind bereit, an dieser Reform aktiv mitzuwirken.