Neckartenzlingen, Torgau (epd). Eine Sache hat Frank Philipp früh in seinem Leben gelernt: Wer Schwäche zeigt, verliert. Mit acht Jahren kam er in ein Kinderheim. „Dort musste man sich beweisen“, erzählt der 51-Jährige, der in Mecklenburg-Vorpommern aufwuchs und heute in Neckartenzlingen bei Stuttgart lebt, dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Entweder du machst die anderen fertig oder sie dich.“
Wegen seines aggressiven Verhaltens kam er mit 13 Jahren in einen sogenannten Jugendwerkhof. Davon gab es 1989 in der DDR 32. Ein Gerichtsurteil war nicht notwendig, um dort eingewiesen zu werden. Es genügte, wenn etwa der Lehrer ein Kind als „verhaltensauffällig“ meldete.
Eine Liste mit Gründen für eine Einweisung in einen Jugendwerkhof findet sich in dem 2006 eingerichteten Dokumentationszentrum in Torgau: Sie reicht von A wie „abartiges Verhalten“ bis Z wie „Zwinkertick“. Damit konnte faktisch jeder missliebige Jugendliche weggesperrt werden. Die Eltern hatten in solchen Fällen kein Mitspracherecht; ihnen wurde von den staatlichen Stellen das Sorgerecht kurzerhand entzogen.
Ziel der Einrichtungen war es, die Heranwachsenden umzuerziehen. Bei wem das nicht gelang, der landete in Torgau. Dort wurde am 1. Mai 1964, vor 60 Jahren, der einzige „Geschlossene Jugendwerkhof“ der DDR eröffnet - eine Art Gefängnis für 14- bis 18-Jährige. Wer nach Torgau kam, galt in den Augen der DDR-Führung als schwerst erziehbar, im offiziellen Sprachgebrauch „asozial“. Hinter vier Meter hohen Mauern und Stacheldraht bestimmten Demütigung, Gewalt und militärischer Drill den Tagesablauf. Das brachiale Motto: Wer nicht hören will, muss fühlen.
„In der Regel benötigen wir drei Tage, um die Jugendlichen auf unsere Forderungen einzustimmen“, schrieb der langjährige Direktor des Geschlossenen Jugendwerkhofes, Horst Kretzschmar. Drei Tage - das war die Zeit, die Neuankömmlinge in der völlig verdunkelten „Zuführungszelle“ zubringen mussten, nachdem ihnen die Haare geschoren und sie in Anstaltskleidung gesteckt worden waren.
Frank Philipp kam im Frühjahr 1989 nach Torgau. An seine Ankunft erinnert sich der damals 17-Jährige noch genau: „Nachdem ich mehrere Sicherheitsschleusen passiert hatte, befahl mir der Wärter, mich komplett auszuziehen. Er sei gleich zurück. Aber er kam nicht zurück. Sie ließen mich dort drei Stunden splitterfasernackt warten.“ Einschüchterung und Psychoterror waren Programm.
Insgesamt 60 Jugendliche konnten dort gleichzeitig untergebracht werden - 40 Jungen und 20 Mädchen, berichtet Manuela Rummel, wissenschaftliche Referentin in der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Zwischen 1964 und 1989 waren es insgesamt 4.046 Jugendliche. Der Tagesablauf war militärisch durchgetaktet: Aufstehen um 5:30 Uhr, dann Frühsport, Waschen und Bettenbau. Frühstück um 7:15 Uhr, danach ging's zur Arbeit. Und das alles im Laufschritt. Der Gruppenzwang reichte so weit, dass sogar alle gemeinsam auf Toilette gehen mussten.
Beim Sport wurden die Jungen und Mädchen häufig bis zum körperlichen Zusammenbruch getrieben. „Machte jemand schlapp, gab's Strafrunden für die gesamte Gruppe“, erinnert sich Philipp. „100 Liegestütze waren normal, auch für Mädchen.“ Ebenfalls gefürchtet der sogenannte „Torgauer Dreier“ - eine Kombination aus Liegestützen, Kniebeugen und Hockstrecksprung. „Dafür holten sie uns manchmal auch während der Nachtruhe aus den Zellen.“
Gewalt gab es offiziell nicht hinter Torgauer Mauern. Dabei prügelten die Aufseher nicht nur selbst - „am liebsten mit dem riesigen Schlüsselbund oder einem Gummiknüppel“, sagt Philipp -, sondern ließen es bewusst zu, wenn Jugendliche Rache nahmen an den Schwachen und Langsamen, deretwegen sie Extra-Runden drehen mussten oder nichts zu essen bekamen. Für die Mädchen kam die Gefahr des sexuellen Missbrauchs hinzu.
Manche Jugendliche sahen keinen anderen Ausweg als den Suizid. „Immer wieder schluckten Jugendliche Nägel, Nadeln oder Schmierfett, um wenigstens für einige Tage ins Krankenhaus zu kommen“, berichtet Manuela Rummel. Zwar sei darüber keine Statistik geführt worden, sagt sie, aber es gebe Berichte an das Ministerium für Volksbildung sowie auch glaubwürdige Zeugenaussagen.
Ihn hätten sie während der sechs Monate, in denen er im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau war, nicht brechen können, sagt Frank Philipp heute. Er wurde Ende Oktober 1989 entlassen. Zwei Wochen später ließen die untergehenden DDR-Machthaber den Jugendwerkhof schließen. Philipp stand vor dem Nichts: „Ich hatte nach der Entlassung ein riesiges Aggressionsproblem. Ganz gesund ist man nicht mehr, wenn man da rauskommt.“
Die Wende in seinem Leben brachte das Jahr 2003, als er seine Frau Sandra kennenlernte. „Sie hat Ruhe und Stabilität in mein Leben gebracht“, sagt er. Vor wenigen Jahren hat er gemeinsam mit ihr das Dokumentationszentrum in Torgau besucht. Kam da alles wieder hoch? „Nein, das ist vorbei“, sagt Frank Philipp: „Ich habe endlich meinen Seelenfrieden gefunden.“