Frankfurt a. M. (epd). Auf dem Papier sieht alles gut aus: Seit rund zehn Jahren gibt es einen verbrieften Rechtsanspruch auf öffentliche Betreuung für Kinder ab zwei Jahren. Für die über Dreijährigen gilt der Anspruch schon seit 1996. Doch die Realität sieht anders aus: Notgruppen, Aufnahmestopps und verkürzte Öffnungszeiten. Der akute Personalmangel in den Einrichtungen macht den Kitabetrieb unsicher, die frühe Bildung findet allenfalls eingeschränkt statt. Das Wort „Betreuungsnotstand“ macht die Runde. „Der Fachkräftemangel erschwert es zunehmend, die Rechtsansprüche zu erfüllen. Die Situation ist für Kinder und Eltern wie auch für das vorhandene Personal untragbar geworden“, sagt Anette Stein, Expertin für frühkindliche Bildung bei der Bertelsmann Stiftung.
„Es ist das eingetreten, wovor wir schon seit langem warnen: Das System beginnt zu kollabieren“, sagte ver.di- Landesleiterin Andrea Wemheuer am 12. März in Hannover. Sie berichtete von extremen Situationen: In der Gemeinde Vechelde hätten 2023 an einzelnen Tagen „in einer Kita zwei Fachkräfte insgesamt 80 Kinder zu betreuen gehabt“. In der Region Hannover könnten immer mehr Kommunen nur noch im Ausnahmefall eine Ganztagsbetreuung garantieren. „In der Regel endet der Kindergartentag dort um 14 Uhr - weil das Personal fehlt“, so die Gewerkschafterin.
Ausbaden müssen diese Misere die Eltern. Und auch die Unternehmen, wenn Eltern immer wieder ihre Kinder notgedrungen selbst betreuen müssen und im Job fehlen. Bei Benjamin Kobelt, Geschäftsbereichsleiter Kinder, Jugend und Familie bei den Johannitern, einem der größten Kitaträger bundesweit, klingt die Lagebeurteilung so: „Derzeit stellen Einschränkungen aufgrund von Personalmangel noch kein signifikantes flächendeckendes Problem dar“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Aber, so räumt er ein: Herausforderungen vor Ort gebe es vor allem immer dann, wenn die angespannte Personalsituation einhergehe mit Krankheitswellen.
Ähnlich zurückhaltend äußert sich Jan Becht für den Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK). Obwohl ihm keine speziell gesammelten Daten zu Personalengpässen aus den Mitgliedseinrichtungen vorliegen, sagt Becht: „Die Personalsituation in den Kitas ist von Bundesland zu Bundesland und von Einrichtung zu Einrichtung sehr unterschiedlich.“ So würden etwa in Thüringen Einrichtungen geschlossen, weil zu wenige Kinder angemeldet werden, während in anderen Bundesländern Kitagruppen eingeschränkt betrieben werden, weil Fachkräfte fehlten.
Leidtragende der Misere sind zuallererst die Eltern, die oft schon froh sein können, wenn sie zwar verkürzte, aber dafür verlässliche Öffnungszeiten vorfinden. Die Hans-Böckler-Stiftung hat im Frühjahr 2023 in einer Umfrage bei Eltern das Ausmaß von Schließungen oder reduzierten Öffnungszeiten in den Kitas ermittelt. Demnach waren fast sechs von zehn erwerbstätigen Eltern davon betroffen. Ein Drittel der Befragten habe bereits die eigene Berufstätigkeit reduziert oder Überstunden und Urlaub abgebaut. 67 Prozent gaben an, dass sie die Ausfälle beziehungsweise die verkürzte Betreuung als belastend empfinden.
„Der Mangel an pädagogischen Fachkräften ist eine Tatsache, die auch wir in unseren 151 Kitas deutlich spüren, für den es jedoch kurzfristig keine Lösung geben wird“, sagte Sarah Hoffmann von der Katholischen KiTa gGmbH Trier dem epd. Bei Personalausfällen sei jede Kita durch die Jugendämter dazu verpflichtet, nach einem „Maßnahmenplan“ zu handeln, der verschiedene Stufen umfasse. „Die vollständige Schließung einer Einrichtung stellt die letzte Stufe dar und kommt äußerst selten vor“, so Hoffmann. Zuvor würden Springer- und Vertretungskräfte eingesetzt oder Gruppen zusammengelegt, um den Personalmangel aufzufangen. „Erst wenn all diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, kann es zu Kürzungen der Öffnungszeiten kommen.“ Das sei im Vorjahr auch in einigen ihrer Kitas nötig gewesen, räumt Hoffmann ein.
„Wir rechnen mit einem sich weiter verschärfenden Personalmangel vor allem in den alten Bundesländern, auch weil hier noch der massive Ausbau der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder bis 2026 dazukommt“, sagt Waltraud Weegmann, Geschäftsführerin des Deutschen Kitaverbandes. Schon heute fehlten bundesweit über 100.000 Erzieherinnen und Erzieher. „Das sind die Zahlen, die die Bertelsmann-Stiftung in ihrem 'Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2023' ermittelt hat“, sagte die Expertin dem epd.
Dass es heute im Vergleich zu vor zehn Jahren doppelt so viele ErzieherInnen gebe, sei zwar ein großer Erfolg. Rund 700.000 sind es. Aber derzeit seien eben schon „alle im Markt befindlichen Fachkräfte in den Kitas eingesetzt“, erläuterte Weegmann. Wegen des Rechtsanspruchs der Eltern auf Betreuung seien die Kapazitäten massiv ausgebaut und auch bestehende Teilzeitplätze in Ganztagesplätze umgewidmet worden, so dass der Bedarf an Fachpersonal deutlich gestiegen sei. Und: Immer jüngere Kinder kommen in die Kitas, deren Betreuung deutlich personalintensiver ist. Nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung fehlen bis zum Jahr 2030 etwa 430.000 Plätze - Ganztagsbetreuung für alle Kinder ist auf mittlere Sicht nicht realistisch.
Der katholische Kita-Zweckverband in Essen ist einer der größten freien Träger von Kindertageseinrichtungen in Deutschland mit rund 250 Einrichtungen. Er beschäftigt 3.500 Mitarbeitende - und sucht derzeit für knapp 160 Stellen pädagogisches Fachpersonal. Sprecherin Lina Strafer sagte dem epd: „Es gibt Teams, die vollständig besetzt sind, es gibt aber auch Teams, die geringer besetzt sind. Um krankheitsbedingte Personalausfälle zu kompensieren, werden mitunter Mitarbeitende von Zeitarbeitsfirmen akquiriert.“ Strafer: „Es ist Aufgabe der Politik, in den Ausbau von Betreuungsplätzen zu investieren und zugleich die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Bildungsqualität gesichert werden kann.“
Laut der Gewerkschaft ver.di ist es angesichts der schlechten Personallage und „fachlich nicht angemessener Arbeitsbedingungen“ überaus schwer, dem Job in den Kitas ein positives Image zu geben. „Die Lücken im Bereich der Kindertageseinrichtungen und bei den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern steigen kontinuierlich“, so die stellvertretende Vorsitzende Christine Behle. Das gehe „zulasten der Kinder, der Eltern und der Beschäftigten, die versuchen, der Mangelsituation entgegenzuwirken“.
Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied für Jugendhilfe und Sozialarbeit, fordert von Kommunen, Ländern und Bund, gemeinsam und zeitnah eine Strategie für die Gewinnung und Bindung von Fachkräften zu erarbeiten. Denn: „Diese Krise hat das Potenzial, unsere Gesellschaft nachhaltig zu verunsichern und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates zu untergraben.“
Die Berechnungen der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass in einigen Bundesländern eine Reduzierung der Kita-Öffnungszeiten bis 2025 dazu beitragen würde, die Personallage beherrschbarer zu machen. „Das ist zweifellos eine einschneidende Maßnahme, die nur individuell und in enger Abstimmung zwischen Kommune, Träger und Eltern getroffen werden sollte“, betonte Forscherin Anette Stein: „Aber die Kita-Krise ist so weit fortgeschritten, dass neue Antworten gefragt sind.“