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Jugend

Schulverweigerer: Hilfe statt Strafe in Bayern




Fahrräder in der Werkstatt "Roven"
epd-bild/Pat Christ
Keinen Bock auf Schule haben viele Teenager mal. Doch wenn die Unlust zum regelmäßigen Schwänzen wird, ist es zur Schulverweigerung nicht mehr weit. Oft haben die Betroffenen schon eine jahrelange "Versagenskarriere" hinter sich und brauchen Hilfe.

Würzburg (epd). Irgendwann hatte Lars (Name geändert) das Gefühl, ein kompletter Loser zu sein. Egal, was er auch anpackte, es misslang - zumindest gefühlt. „In unserer Fahrradwerkstatt entdeckte er dann, wie gut er feinmotorisch arbeiten kann“, sagt Lorenz Egner. Er arbeitet beim Projekt „Roven“ der Würzburger Don Bosco-Berufsschule. Hier kümmert man sich seit 15 Jahren um Schulverweigerer. „Roven“ steht für „Rekonstruieren, Organisieren, Vernetzen, Ermutigen, Neustart“ - also für all das, was Schulverweigerer brauchen.

Ein individuell angepasstes Angebot

Kinder und Jugendliche müssen in die Schule gehen, mindestens neun Jahre, sagt die Schulpflicht. Wer sich verweigert, dem droht im schlimmsten Fall Jugendarrest. Doch dadurch wird oft nichts besser, sagt Harald Ebert, Leiter der Don Bosco-Berufsschule. Seit 15 Jahren setzt er sich deshalb für Schulverweigerer ein. Wie nötig das ist, zeigen aktuelle Zahlen. 2023 wurde „Roven“ im Durchschnitt wöchentlich kontaktiert. In 34 Fällen stieg das Team in die Beratung ein, in 16 Fällen wurden die Schüler bei „Roven“ aufgenommen.

Kein „Fall“ ist für Lorenz Egner und seine Kollegin Ute Schäffner wie der andere. „Jeder Jugendliche bekommt bei uns ein individuell angepasstes Angebot“, sagt er. „Roven“ ist kein Schulersatz. Es geht deshalb auch nicht zuerst ums Lernen. Durch Gespräche wird versucht, das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen. In Lars Fall musste das Selbstbewusstsein gestärkt werden, der Achtklässler sollte erkennen: „Ich kann was!“ Ausprobiert wurde vieles, bis er in der Fahrradwerkstatt erlebte, wie gut er kniffelige praktische Probleme lösen kann.

Als Lars dann so weit war, dass man mit ihm auch wieder Schulstoff durchnehmen konnte, musste Egner erst einmal den Wissensstand in den verschiedenen Fächern ermitteln. Achtklässler Lars hinkte vor allem in Mathe dem Lehrplan hinterher. Also stieg er mit Stoff aus der sechsten Klasse wieder ein. „Wir holen die Jugendlichen immer da ab, wo sie stehen“, sagt Egner. Lars hatte plötzlich sogar Spaß am Rechnen. Das sei auch das Ziel, sagt Egner: „Wir versuchen, neu Begeisterung zu wecken.“ Allmählich gelang es Lars, seine Lücken aufzuholen.

Zur Not kommt die Polizei vorbei

Die Frage, welches Ausmaß Schulverweigerung hat, ist schwer zu beantworten. „Je nachdem, welche Formen, Kriterien, Zeiträume und Populationen ermittelt werden, ergeben sich Prävalenzraten, die zwischen 3 und über 25 Prozent liegen können“, sagt Heinrich Ricking, Schulabsentismus-Forscher der Uni Leipzig. Repräsentativ seien die Daten aus der aktuellen PISA-Studie: 2022 schwänzten elf Prozent aller Schüler in den zwei Wochen vor der Befragung mindestens einen Schultag. 15 Prozent ließen mindestens eine Stunde sausen.

Genaue Zahlen zu Bayern gibt es nicht, sagt Ricking. Das bayerische Kultusministerium bestätigt: „Es liegen keine statistisch auswertbaren Daten dazu vor.“ Ein zentrales Meldeverfahren sei nicht geplant, der Aufwand dafür wäre zu hoch. Im Übrigen kenne das bayerische Schulrecht den Begriff „Schulverweigerung“ nicht, nur den Begriff der „Schulpflicht“. Und diese werde bei Schulverweigerern von der Polizei durchgesetzt. Eltern von Schulschwänzern droht ein Bußgeld, das allerdings laut Ministerium nur selten verhängt wird.

Aufgrund von Misserfolgen frustriert

Die Ursachen für Schulverweigerung sind vielfältig. Psychische Erkrankungen oder Mobbing können dahinter stecken. „Es kann auch sein, dass ein Jugendlicher aufgrund von Misserfolgen frustriert ist“, sagt Psychologe Bernhard Kühnl von der städtischen Erziehungsberatungsstelle in München. Auffällig sei in den vergangenen Jahren schulverweigerndes Verhalten in den ersten beiden Grundschulklasse gewesen. 2022 habe es deshalb eine hohe Beratungsnachfrage gegeben. „Dieses Phänomen war in diesem Ausmaß neu“, sagt Kühnl.

Um der Entstehung von Schulverweigerung entgegenzuwirken, müsste einiges getan werden, sagte Kühnl, der auch Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Erziehungsberatung in Bayern ist: „Das Schulsystem ist überfordert, wir haben zu wenig Personal, darum zu große Klassen.“ Auch das trage zur Schulverweigerung bei. Der Erziehungsberater kritisiert in diesem Zusammenhang auch die Selektion nach der vierten Klasse. Die frühe Auslese führe zu einem immensen Leistungsdruck am Ende der Grundschulzeit.

Pat Christ