Essenheim (epd). Anny Stöcklein ist schon 101 Jahre alt. Auf ihr hohes Alter ist sie stolz. Frau Stöcklein ist dement. Erwartungsvoll sitzt sie mit ihrem Rollstuhl im Friseursalon von Martina Schäfer, der sich im Erdgeschoss des Seniorenzentrums Domherrengarten im rheinhessischen Essenheim befindet.
Martina hat sich auf die Arbeit mit Menschen mit Demenz spezialisiert. Im Jahr 2010 hatte sie sich selbstständig gemacht und war hauptsächlich als mobile Friseurin tätig. Die Friseurmeisterin bemerkte dabei, dass sich die Senioren unwohl fühlten, wenn sie im eigenen Bad die Haare geschnitten bekamen. Einige ihrer Kunden seien aus der Kriegsgeneration gewesen, sie hätten durch das Haareschneiden sogar Angst bekommen. „Das hat mir das Herz gebrochen“, sagt Martina. Deshalb entschloss sie sich, im Seniorenzentrum in Essenheim einen Friseursalon einzurichten. Seit 2021 hat Martina dort ihr Haarstudio.
„Die Menschen wissen manchmal nicht mal mehr, wer sie selbst sind“, erzählt die Friseurmeisterin. Deshalb ist eine vertraute Atmosphäre für Martinas Kunden wichtig. Poster von Marilyn Monroe und James Dean hängen an der Wand. In einer Wassersäule schwimmen Plastik-Fische. Vor den großen Spiegeln an den Plätzen stehen bunt glänzende Sammeltassen. „Da drin lagern wir manchmal die Hörgeräte, damit die nicht verloren gehen“, erzählt Martina lächelnd.
Auf dem Sperrmüll hatte sie ein altes Radio entdeckt. Es funktioniert nicht mehr, deshalb ist ein Bluetooth-Lautsprecher dahinter versteckt, auf dem leise Musik spielt. Die vielen Zeitzeugen erwecken Erinnerungen bei ihren Kunden, sagt Martina. Die „Wohnzimmer-Atmosphäre“ schaffe Vertrautheit.
Den Umgang mit dementen Menschen hat Martina sich selbst erarbeitet und Fortbildungen gemacht. Sie geht einfühlsam mit ihren Kunden um, viel passiert über nonverbale Kommunikation. Frau Stöcklein ist entspannt, als Martina anfängt, ihr die Haare zu schneiden. Ruhig sitzt sie im Stuhl und betrachtet sich im Spiegel. Wenn Martina mit ihr redet, legt sie ihre Hand um die Schulter von Frau Stöcklein, lächelt und schaut ihr in die Augen. Frau Stöcklein lächelt zurück.
Martina schreibt sich Details aus den Leben ihrer Kunden auf. Sie sammelt biografische Daten, aber auch Anekdoten aus dem Leben der Menschen. Damit hat sie immer Gesprächsstoff, und die Senioren haben das Gefühl, mit einer vertrauten Person zu sprechen.
„Da kommen Menschen, die vielleicht das letzte Mal zum Friseur gehen“, sagt Martina. Der Besuch bei ihr soll deshalb immer etwas ganz Besonderes sein. Martina arbeitet nah am Tod. Direkt vor ihrer Tür liegt das Kondolenzbuch des Seniorenzentrums. Schon öfter hat die Friseurin Namen ihrer ehemaligen Kunden gelesen. Ein wenig traurig sei sie dann manchmal schon, erzählt sie. Auf der anderen Seite wisse sie aber, dass sie den Menschen noch ein schönes Erlebnis geben konnte.
Martina hat sogar ihr eigenes Haarspray entwickelt. Das habe noch den „typischen Haarspray-Geruch“ von vor 40 Jahren. Nach dem Frisieren bekommt auch Frau Stöcklein einige Stöße davon auf die neue Frisur. Bevor die Seniorin wieder von einer Pflegekraft abgeholt wird, bedankt sie sich bei Martina für die neue Frisur. 102 und noch älter wolle sie werden, sagt Frau Stöcklein. Vielleicht sogar 110.