Berlin (epd). Ein bundesweites Netzwerk aus Sozialpädagogen, Behörden und Wissenschaftlern hat bis in die 2000er Jahre sexuelle Gewalt in der Kinder- und Jugendhilfe gedeckt. Nach einer am 23. Februar in Berlin vorgestellten Studie der Universität Hildesheim erstreckte sich das Netzwerk um den 2008 gestorbenen Psychologen und Sexualwissenschaftler Helmut Kentler von Göttingen aus über Berlin, Hannover, Tübingen, Lüneburg und die Odenwaldschule in Hessen. Die Akteure, die unter anderem in leitenden Positionen des Berliner Landesjugendamtes saßen, vertraten seit den 1960er Jahren pädophile Positionen.
Im Zentrum stand das sogenannte Kentler-Experiment, bei dem von den Jugendämtern Kinder und Jugendliche mit dem Ziel der Resozialisierung bewusst an pädophile Pflegeväter vermittelt wurden. Kentler selbst war unter anderem von 1967 bis 1976 in leitender Position am Pädagogischen Zentrum Berlin tätig, einer Senatsbehörde, und Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Hannover. Er war zudem auch in Einrichtungen der evangelischen Kirche tätig.
In der Studie im Auftrag der Berliner Bildungsverwaltung kommen unter anderem sechs Betroffene zu Wort. Zudem wurden weitere Zeitzeugen befragt und 1.100 Akten der Bildungsverwaltung analysiert.
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, sagte in Berlin: „Der Bericht zu Helmut Kentlers Wirken in Berlin zeigt, wie komplex und tief verflochten die Strukturen sexueller Gewalt selbst im Kinder- und Jugendhilfesystem sein können.“ Möglich sei das deutschlandweite pädokriminelle Netzwerk, weil maßgebliche Akteure aus Wissenschaft, Praxis und Verwaltung der Kinder- und Jugendhilfe pädokriminelle Positionen unter der Chiffre vermeintlicher ‚pädophiler Beziehungen‘ unhinterfragt geduldetet und sogar unterstützt hätten.
„Deswegen ist es mir so wichtig, dass wir wissenschaftliche Analysen problematischer Kinderschutzverläufe, wie sie zum Beispiel mit dem Kinderschutzgesetz in Nordrhein-Westfalen vorgesehen sind, auch als bundesweiten Qualitätsrahmen setzen“, betonte die Beauftragte.
Mit dem im Koalitionsvertrag vereinbarten UBSKM-Gesetz sei dies möglich. Gleichzeitig gehe es in diesem Gesetz darum, auch die Rechte Betroffener zu stärken. „Damit das gelingt, braucht es ein gesetzlich verankertes Recht auf Akteneinsicht und klare Regeln, die Institutionen im Kontext von Aufarbeitung einhalten müssen. Der Entwurf dieses Gesetzes steht und ich dränge darauf, dass er jetzt endlich auch für die Öffentlichkeit zugänglich wird und die Länder und Verbände beteiligt werden.“
Die Wissenschaftlerinnen um den Hildesheimer Professor für Sozial- und Organisationspädagogik Wolfgang Schröer konstatieren in der Studie eine regelrechte Entgrenzung des Kentler-Experiments, das von einem „old boys network“ gedeckt wurde. Dazu gehörten leitende Mitarbeiter in Jugendämtern ebenso wie Heimleiter und Wissenschaftler. Vorwiegend handelte es sich demnach um Männer wie den 1989 gestorbenen Sozialpädagogen Martin Bonhoeffer, der in Berlin für das Heimkinderwesen zuständig war, und den 2010 verstorbenen früheren Leiter der Odenwaldschule, Gerold Becker.
Die Autorinnen sprechen von einem „machtvollen Zusammenwirken von Wissenschaft, Fachexperten und Behörden“, die in der Jugendhilfe gemeinsam über Jahrzehnte eine Fachpraxis etablierten, in der sexuelle Gewalt dazu gehörte. „Und Behörden wie das damalige Berliner Landesjugendamt haben die Infrastruktur gestellt“, sagte Schröer. Sexualisierte Gewalt an den jugendlichen Schutzbefohlenen sei im Sinne der Reform-Pädagogik und der Heimreform von leitenden Akteuren in den Behörden bewusst in Kauf genommen worden: „Sie wurde geduldet, legitimiert und unterstützt.“
Kritik daran wurde laut Schröer lange auch in der Wissenschafts- und Fachgesellschaftsszene abgewehrt und bagatellisiert: „Man sprach von Einzelfällen und hat die Heimreform-Bewegung regelrecht glorifiziert.“
Die Studie ist der dritte Aufarbeitungsbericht zu dem Komplex. Erste Zwischenberichte waren 2020 und 2022 erschienen. Berlins Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) sagte, die Erkenntnisse gäben die Möglichkeit, bundesweit die Kinder- und Jugendhilfe „kritisch zu überprüfen“.
Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gab eine Studie zu Helmut Kentler und seinem Wirken im kirchlichen Raum in Auftrag. Eine erste Vorstudie dazu wurde im Juli 2023 vorgestellt.